All diese Menschen haben mir etwas voraus, das ich nie werde aufholen können. Ich bin, wie Sie wissen, in der alten Bundesrepublik aufgewachsen. Und wie die meisten Westdeutschen habe ich die entscheidenden Tage des Herbstes 1989 vor allem vor dem Fernseher verbracht. An die "Tagesthemen" mit Hans-Joachim Friedrichs kann ich mich noch gut erinnern. Ungläubig habe ich die Bilder verfolgt, die da vor mir über den Bildschirm flimmerten. Die düsteren Aufnahmen aus Leipzig, die die ungeheure Kraft und mutige Entschlossenheit der Menschen am 9. Oktober bezeugten und aller Welt vorführten, waren für mich und eine ganze westdeutsche Generation prägende Bilder.
Am 31. Oktober dann war ich in Berlin und habe mir die Mauer angeschaut. Vielleicht schon damals mit dem Gedanken: "Wer weiß, wie lange sie noch steht". In der Rückschau und mit dem Wissen um den Mauerfall wenige Tage später lassen sich Erinnerung und Wunsch heute nicht mehr immer sauber trennen. Die Verbindung von Leipzig nach Berlin, vom 9. Oktober zum 9. November, war damals unsicher, zu erahnen - auch wenn uns das Ergebnis des Mauerfalls heute als nur folgerichtig erscheint.
"Wo warst Du am 9. Oktober?" ist auch eine indirekte Frage, sie ist nicht nur örtlich zu verstehen. Wo standen wir damals, wo stehen wir heute, in Ost und West? Leipzig hat wie kaum eine andere deutsche Stadt eine rasante Entwicklung genommen, vom Zentrum der Opposition gegen die SED hin zu einer Stadt, die mit ihrem Puls, ihrer Kultur und ihrem Selbstverständnis Menschen aus aller Welt anzieht. Unter "weltoffen" verstehen wir heute etwas anderes als vor 25 Jahren - aber eigentlich ist die Bedeutung des Wortes gleich geblieben.
Leipzig hat sich so rasant entwickelt, von den wirtschaftlich so schwierigen 90er Jahren hin zu einer neuen Gründerzeit, dass mittlerweile nur noch jeder zweite Einwohner, der heute hier wohnt, auch 1989 schon innerhalb der damaligen Stadtgrenzen gelebt hat. Für jeden Zweiten von uns lebt der 9. Oktober 1989 also vor allem vom Erzählen, von Bildern und Geschichten.
In diesen Tagen wollen wir uns erinnern, wollen erzählen, wollen der nächsten Generation versuchen zu erklären, was hier vor 25 Jahren geschehen ist. Wer dabei war, damals in Leipzig, soll erzählen davon, was er erlebt, wie er sich gefühlt hat. Und wer die Fernsehbilder verfolgte, soll berichten, was er damals gedacht, gehofft und erwartet hat. Beide Sichtweisen ergeben ein komplettes Bild.
Ihr Burkhard Jung