66. Jahrestag der Befreiung vom deutschen Faschismus und Krieg / Protesttag gegen das Nazi-Zentrum in Lindenau
(8.5.2011, Leipzig, Lindenauer Markt)
Liebe Freunde,
Heute, vor 66 Jahren, endete der Zweite Weltkrieg, ein Krieg, der mit dem Überfall der Deutschen Wehrmacht auf Polen begonnen hatte. Heute, vor 66 Jahren, ging der deutsche Nationalsozialismus unter, ein Regime, das von Beginn an mit blutiger, mörderischer Hand regierte. Vergessen wir nie: Beides ist untrennbar verbunden. Der Nationalsozialismus wollte den Krieg. Hier fand er seine Bestimmung. Alles diente dem Krieg, einem Krieg, den er lange vor dem 1. September 1939 gegen seine eigenen Bürger entfesselte: gegen die politischen Opponenten, gegen die sozial Schwachen, gegen die Andersdenkenden, wie immer ihr Name war. Mit einem Wort: Nationalsozialismus heißt Krieg, heißt Ausmerzung, heißt Vernichtung.
Heute, 66 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, bleibt diese historische Wahrheit unverrückbar. Wir sind verpflichtet zu sagen: Dieser Krieg wurde gezielt vorbereitet. Dieser Krieg ging von deutschem Boden aus. Dieser Krieg mordete über 50 Millionen Menschen.
Dieser Schrecken, der von Deutschland ausging, kehrte am Ende an seinen Entstehungsherd zurück. Auch Deutsche wurden zu Opfern. Aber dieses Leid darf kein Vorwand für Geschichtsklitterung sein, darf nicht Ursache und Wirkung verwechseln. Und schon gar nicht dürfen wir die fatale Logik der gegenseitigen Aufrechnung bedienen.
Wir wissen: Am Anfang stand der nationalsozialistische Wille zum Krieg. Wer dies verkennt, wer dies verleugnet, macht sich mit den Tätern gemein. Dies dürfen wir nie vergessen. Daher waren der 18. April 1945, das Ende der Nazi-Herrschaft in Leipzig, und der 8. Mai 1945 Tage der Befreiung von der mörderischen Diktatur der Nazis und der von ihnen entfesselten Kriege.
Liebe Freunde!
Nun sind es fast drei Generationen nach dem Ende dieses schrecklichsten aller Kriege. Wir Europäer können uns frei und friedlich begegnen. Europa wächst zusammen. Uns Mitteleuropäern erscheint es selbstverständlich, im Frieden zu leben. Die Erfahrung des Krieges ist unendlich fern. Aber nur scheinbar!
Der Krieg ist ja nicht verschwunden. Er hat sein Gesicht verändert. Seine Akteure, seine Instrumente, seine Ziele und Opfer sind im 21. Jahrhundert andere geworden.
Heute ist daher auch der Tag zu fragen: Sind unsere geistigen und politischen Sinne auf diese neuen Kriege vorbereitet? Haben wir aus der Geschichte der weltweiten Kriege des 20. Jahrhunderts wirklich gelernt?
Vor allem sollten wir bedenken: Der Krieg ist nicht nur eine Mordmaschine, die, einmal in Gang gesetzt, kaum zu stoppen ist. Der Krieg besitzt eine Prägekraft, der man nicht entrinnen kann. Der Krieg verunstaltet auch die, die ihn überleben. Oft ist die Zahl der Opfer nach Kriegsende höher als die der sogenannten „Gefallenen“. Nur ein Beispiel für viele, weil wir diese Zahlen kennen: Mehr als 60.000 amerikanische Veteranen des Vietnam-Kriegs haben Selbstmord begangen, traumatisiert durch ihre Erfahrungen. Sie waren unfähig, in ein ziviles Leben zurückzufinden, für das es keine Normalität mehr geben konnte.
Der Krieg ist ein Angstmacher für alle Menschen. Was viele aus kriegerischen Konflikten an Ballast für ihr weiteres Leben mitnahmen - die moralischen Verkrüppelungen, die seelischen Verletzungen, die verlogenen Legenden - all dies muss zu Worten der Erinnerung werden. Erst dann können wir ermessen, wie zutiefst menschenfeindlich der Krieg ist. Kann er da jemals die „ultima ratio“ sein?
Liebe Freunde,
ich sagte es bereits: Der Nationalsozialismus ist mehr als ein Regime von Krieg und Konzentrationslager. Er ist eine bestimmte Weise, die Gesellschaft zu denken und das Leben zu definieren. Für den Nationalsozialismus gab es keine humane Ebenbürtigkeit, kein Recht auf Würde und Leben. Er teilte die Menschen gnadenlos in Nützliche und Unnütze, in Lebenswerte und Lebensunwerte. Der Nationalsozialismus war die Organisation der Menschenfeindlichkeit.
Daher betrieb er die Entrechtung derjenigen, die ihm nicht passten. Er wollte sich ihrer entledigen, er wollte sie enteignen und berauben. Recht- und mittellos sollten sie sein, wehrlos dem brutalen Zugriff der Räuber und Mörder ausgeliefert. Bertolt Brecht hat im Nationalsozialismus keine politische Bewegung, sondern eine kriminelle Vereinigung gesehen. Wie recht er hatte!
Liebe Freundinnen und Freunde,
Aber auch darüber müssen wir uns Klarheit verschaffen, auch dieser Tatsache müssen wir am heutigen Tag unaufgeregt ins Auge sehen: Der Neonazismus ist keine Wiederholung, keine bloße Ausgeburt des Kopfes. Er ist eine bestürzende Reaktion auf wirkliche Lebensverhältnisse. Das Entsetzliche ist: Der Neonazismus ist keine Gestalt der Vergangenheit. Er existiert in unserer Gegenwart, in unserer Nähe, hier in Lindenau.
Die geschichtlichen Lügen des Neonazismus sind das eine, die gesellschaftlichen Problemlagen, aus denen er Nutzen zieht, das andere. Nur wer diese Tatsache zur Kenntnis nimmt, kann die notwendige Auseinandersetzung mit Selbstbewusstsein und Souveränität führen.
Es ist nicht nur das historische Ereignis des Nationalsozialismus, das uns herausfordert. Es ist eben auch unsere Gegenwart, die uns zwingt, Farbe zu bekennen. Denn die Tatsache ist nicht aus der Welt zu schaffen: Auch heute sind Leute unterwegs, die antisemitisches Gedankengut pflegen. Auch heute besitzt rassistisches Gedankengut seine Anhänger. Auch heute glauben nicht wenige, Menschen in Nützliche und Überflüssige aufteilen zu können.
Dem müssen wir uns mit der Kraft unserer Erinnerung und der Überzeugung der Unverletzlichkeit der Menschenrechte entgegenstellen. Ich bin deshalb sehr froh, dass Sie heute so zahlreich hier erschienen sind. Dies ist nicht selbstverständlich. Denn: Seien wir ehrlich, der geschichtlichen Schande und der unschönen Wirklichkeit ins Auge zu sehen, ist nicht so leicht!
Es ist daher eine riesige Qualität unserer Stadt, dass sich so viele der Menschenfeindlichkeit entgegenstellen!
Liebe Freundinnen und Freunde!
Der heutige Tag mahnt alle denkenden und fühlenden Menschen: Der Krieg beginnt nicht an dem Tag, an dem die Waffen sprechen. Er beginnt da, wo wir es unterlassen, seine Ursachen zu bekämpfen. Der Neonazismus beginnt nicht an dem Tag, an dem er Wählerstimmen einheimst. Er beginnt da, wo wir es unterlassen, ihm mit friedlichen Mitteln zu begegnen. In unserer offenen und gastfreundlichen Stadt brauchen werden wir dies auch weiterhin tun, wo und wann auch immer!
Die große jüdisch-deutsche Philosophin Hannah Arendt hat den Nationalsozialismus als das „radikal Böse“ gekennzeichnet. Wir werden auch in den kommenden Jahren nicht nachlassen, dieses „radikal Böse“ beim Namen zu nennen.
Es gilt das gesprochene Wort