Rede zum Festakt 800 Jahre Thomana
(Rede von Oberbürgermeister Burkhard Jung vom 20.03.2012)
Sehr geehrter Herr Bundespräsident Dr. Gauck und Frau Schadt,
sehr geehrter Herr Ministerpräsident Tillich,
sehr geehrter Herr Landtagspräsident Dr. Rößler und Gattin,
sehr geehrte Abgeordnete der Parlamente der EU, des Bundes, des Freistaates Sachsen und des Leipziger Stadtrates,
sehr geehrter Botschafter sowie alle Repräsentanten des konsularischen Corps,
sehr geehrter Herr Bischof Bohl,
sehr geehrter Herr Professor Wolff,
Hohe Festversammlung!
Ich kann meine Ehrfurcht nicht ganz verbergen – heute zu diesem Anlass und hier in diesem Raum. 800 Jahre ereignisreiche, gemeinsame Geschichte von Thomanerchor, Thomasschule, Thomaskirche (und Krankenhaus St. Georg) begehen wir heute.
Diese Zahl 800 verkörpert eine Geschichte, die heute lebendig und kraftvoll wie nie ist. Dabei war der Beginn im tiefsten Mittelalter, am 20. März 1212 für die Leipziger Bürgerschaft nicht unbedingt ein Tag der Freude, als Markgraf Dietrich der Bedrängte von Meißen die Gründung des Augustinerklosters in Leipzig besiegelte.
Die damalige Marktkirche wurde dem Kloster übertragen. Die verbrieften Rechte für das Kloster betrafen auch die Gründungen einer Schule und eines Hospitals. Es waren rechtliche und finanzielle Einschnitte für die Bürger zu erwarten.
Daher mühten sich die Bürger nach Kräften, den Kirchenbau zu vereiteln, zumindest zu verzögern, indem sie das Baumaterial entwendeten und in der Stadt verteilten, den ersten Probst der Chorherren verjagten.
Dennoch: Die rumpeligen Anfänge anno 1212 bedeuten gleich für vier Leipziger Institutionen die Geburtsstunde: für die Thomaskirche, den Thomanerchor, die Thomasschule und das Krankenhaus St. Georg
Nur eine Episode von vielen, die uns heute staunen macht, wie es gelingen konnte, diese Institutionen schadlos über schwierigste, bedrückendste und gefährlichste Zeiten hinweg zu erhalten, zu stärken und zu höchster Blüte zu führen.
Da meine ich zunächst wirklich existenziell bedrohende, physische Ereignisse wie den 30jährigen Krieg, die Völkerschlacht, den 1. und 2. Weltkrieg.
Natürlich sind äußere Bedingungen wichtig für das Fortbestehen und gemeinsam Wachsen dieser Institutionen, sie geben den Rahmen vor: wie z.B. mit der Reformation die städtische Übernahme der Klosterschule und des Chores samt Kantor – und deren enge Anbindung an die Thomaskirche.
Das erscheint uns im Rückblick als ein günstiges Schicksal.
Ebenso wie berühmte Kantoren, die alle den Chor formen, um sein Überleben kämpfen und sein Leistungsvermögen. Die Namen sind eingeprägt, verehrt: Calvisius, Schein, Schelle, Kuhnau, – bis Karfreitag 1725 eine neue Musik erklingt, die von J.S. Bach.
Dieser schafft ein Universum, dem wir in Leipzig die Entwicklung zu einem großen Musikzentrum der Welt verdanken. Und die Orte, die Stätten, der Geist, seine Musik immer wieder aufzuführen, zu erhalten, zu größter Meisterschaft zu führen – die sind hier in Leipzig über die Jahrhunderte geblieben: die Thomaskirche, der Thomanerchor, die Thomasschule.
Und sie haben andere angezogen, so wie Bachs Musik, sein Leben und Schaffen hier in Leipzig, anderen bedeutenden Musikern, Komponisten, Wissenschaftlern unsere Stadt als den richtigen Ort gewiesen haben.
Die Bedeutung dessen für die Entwicklung Leipzigs als lebendiger Ort geistiger Regsamkeit, als Hort der Musen und Wissenschaften, als Kristallisationspunkt einer einmaligen Musik- und Geistesgeschichte ist unumstritten.
Aber wir wissen auch: Eine Struktur kann nur wirksam bleiben durch etwas, das sie im Inneren zusammenhält: Einstellungen, lebendige Werte, Haltungen, Ideale.
Dazu gehören bestimmte Vorstellungen vom Miteinander oder von Werten, die wesentlich, überlebenswichtig, prägend sind für eine Gesellschaft.
Diese Werte haben im Thomanerchor seit jeher eine Wurzel, die bis ins Heute reicht: die Musik, der Kontext christlicher Werte, Verantwortung für den Anderen, Gemeinschaft und Individualität, und das besondere Lernen, die Leidenschaft für eine ganz besondere Sache.
Sie schaffen und vermitteln uns die Kultur, mit der wir uns einüben in das Leben - in Gegenwart und Zukunft, in unsagbare Freude wie in den sprachlosen Schmerz, in das ganze Leben und auch in Sterben und Tod.
Wer sich beizeiten so in dieser Weise einübt, kann darauf zurückkommen, wenn es nötig wird. Weil diese vermeintlich alten Werte uns ein ganzes Menschenleben lang begleiten können wie ein unverlierbarer Schatz, ist es wichtig, sie rechtzeitig zu lernen.
Nicht lernen, um damit nach und nach den Kopf zu füllen, sondern wie man im Englischen sagt „by heart“ – mit dem Herzen.
Menschen, denen sich Musik, Glaube oder ein besonderes Wissen um die wichtigen Dinge in unserem Leben ins Herz gesenkt haben, haben damit einen Schatz, der nicht so leicht verloren geht. Er ist nicht nur krisensicher, sondern hilft gerade in Krisenzeiten des Lebens, Schutz und Halt zu finden.
All diese Dinge kann man in der Gemeinschaft des Thomanerchores lernen und vermag dieser wiederum gemeinsam mit Kirche und Schule äußerst lebendig in die Stadtgesellschaft hinein zu vermitteln.
Dies war von Anbeginn an so: die Thomaner waren sicht-, hör- und fühlbar immer Bestandteil der Stadtgesellschaft:
Vieles aus der Geschichte scheint uns heute unvorstellbar, die Dienste, die bei Begräbnissen oder Hinrichtungen zu versehen waren, die schwierigen Lebensbedingungen und auch die vielen Versuche, den Chor ideologisch für sich zu vereinnahmen.
Der Chor hatte ein „Talent“, sich quasi auf der falschen Seite der Geschichte wiederzufinden: Der Gründungsvater Otto VI. wurde vom Papst exkommuniziert und verlor seine Krone.
Als Luther gut dreihundert Jahre später öffentlich in Leipzig disputierte, traten die Thomaner auf und blieben trotzdem katholisch - bis die neuen evangelischen Machthaber ihr Kloster auflösten und den Chor unter städtische Aufsicht stellten.
Die Thomaner wurden der Hitlerjugend einverleibt, dann unter den DDR Machthabern immer wieder ideologischen Vereinnahmungsversuchen ausgesetzt. Welfen, Thomaskloster, Nazis, DDR – all das ist vergangen.
Die Thomaner singen auch heute, sie haben unbeschadet die Anfeindungen überstanden – sind heute stark und singen in der ganzen Welt mit größtem Erfolg - darauf sind wir stolz.
Sie haben sich mit dem Besonderen, was nur sie in höchster Qualität können, immer wieder einen unangreifbaren Status gesichert. Sie haben mit aller Kraft ihre auf den christlichen Werten basierenden Eigenschaften als Gemeinschaft verteidigt, leben diese zeitgemäß und doch traditionsbewusst weiter.
Und sie haben einen wunderbaren Ort, Heimat und Zuflucht, Herausforderung und Förderung in der Gemeinschaft mit der Thomaskirche und der Thomasschule.
Auf diesem Fundament, in dieser glücklichsten aller Symbiosen, konnte es gelingen über alle Krisen hinweg stark zu bleiben, unangreifbar, allen Versuchen, die Arbeit des Chores von außen zu beeinflussen und ihn zu beherrschen, standzuhalten.
Die Thomaner haben ein eigenes Leben, das durch eben diese so langen Traditionen geprägt und unzerstörbar ist.
Wir sind der heutige, der gegenwärtige Teil dieser wunderbaren Geschichte – und in dem Gefühl der Ehrfurcht vor dieser langen Tradition verstehen wir eben auch, was dieses Geheimnis ist, das bis heute und weiter in die Zukunft trägt.
Und wir verstehen auch die Verantwortung die wir haben, diesen Schatz für uns und für die Zukunft zu erhalten – die Bedingungen von außen zu geben, die Halt sind und der Boden, auf dem das kulturelle Gedächtnis unserer Stadt gedeiht.
Ich sehe angesichts dieser Geschichte überdeutlich vor mir, dass die Menschen eben immer, zu jeder noch so existenziell bedrohenden Zeit Kultur und Kunst wie ein Überlebensmittel gebraucht und produziert haben.
Anderenfalls hätte Leipzig und die Bürger dieser Stadt sonst längst keinen Thomanerchor mehr und J.S. Bach wäre ein vergessener Diener Gottes – und nicht mehr.
Im Hinblick auf die unselige Debatte zur angeblichen Überflüssigkeit einer Anzahl kultureller Institutionen sollte vielleicht Martin Luther einmal Pate stehen:
"Könige, Fürsten und Herren müssen die Musik erhalten; dem großen Potentaten und Regenten gebührt es, über guten freien Künsten und Gesetzen zu wachen."
Für Luther war die Wirkung der Musik eindeutig: Sie ist die beste Labsal für einen betrübten Menschen!
Ich bin sehr froh und stolz, dass wir heute hier alle gemeinsam dieses Jubiläum feiern - in Frieden und in einer freiheitlich demokratischen Grundordnung.
Stolz können wir alle sein, dass dieses wunderbare Ensemble weltweit gefeiert hier seine Heimat hat und gleichzeitig Heimat ist, dass die Thomaskirche eine offene, gelebte Stätte des Glaubens und der weltweit berühmten und geschätzten Musik ist, dass die Thomasschule als erste öffentliche Schule Deutschlands überhaupt in dieser Vereinigung einen kreativen und befördernden Platz einnimmt und dass ein klösterliches Hospital heute als modernes und fachlich herausragendes Krankenhaus eine Vorzeigeeinrichtung der Daseinsvorsorge zu uns gehört.
Der Blick in die Zukunft gerät mir hier daher voller Optimismus: Der Campus forum thomanum nimmt Gestalt an, das neue (alte) Alumnat wird bald fertig sein, die Villa und der Kindergarten sind bereits vor Ort, eine (städtische) Grundschule ist in der Planung.
Wir werden anknüpfen an das, was seit 800 Jahren so lebendig, so kraftvoll und richtig den Weg durch schwierigste Zeiten gefunden hat – an höchste Kunst, ein intensives Miteinander, an diese ganz besondere Mischung aus Kraft der Tradition, Disziplin, Perfektion und Leidenschaft!
Ich danke allen, die das Jahr um Jahr, jeden Tag ermöglichen, die Mut und Weitsicht in ihren Entscheidungen walten ließen und wünsche uns von Herzen, dass es daran auch künftig nicht mangeln möge!
Allen Jubilaren des heutigen Tages meinen herzlichen Glückwunsch!