Rede zum Internationalen Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus
Rede des Oberbürgermeisters Burkhard Jung zum Internationalen Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus vom 27.1.2011 an der Gedenkstätte Abtnaundorf, Leipzig. Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrte Frau Generalkonsulin,
sehr geehrter Herr Henker,
verehrte Mitglieder der Parlamente, des Leipziger Stadtrates und der Religionsgemeinschaften,
vor allem aber: sehr geehrte Frau Dvořáková, sehr geehrter Herr Zelenka,
besonders freue ich mich, dass Sie aus Tschechien den Weg zu uns nach Leipzig gefunden haben. Ich darf Sie ganz besonders an diesem Ort begrüßen. Sie haben leibhaftig erfahren, was Nationalsozialismus heißt. Sie verkörpern das lebendige Gedächtnis einer Vergangenheit, die nicht vergehen will, die nicht vergessen werden darf.
Meine Damen und Herren!
66 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz haben wir uns hier zusammengefunden, um - wie in jedem Jahr - an dieses wahnsinnige Verbrechen des 20. Jahrhunderts zu erinnern. Wir gedenken heute aller Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik, seien sie aus religiösen, politischen oder ethnischen Gründen verfolgt gewesen. Das Konzentrationslager lehrt uns auch diese Erkenntnis: Es existiert keine Hierarchie der Opfer. Der totalitäre Zugriff macht seine Gegner gleich.
Denn daran hat der Nationalsozialismus nie einen Zweifel gelassen: Er wollte von Beginn an vernichten. Es war seine erklärte Absicht, alle politischen, religiösen, und ideologischen Feinde auszumerzen.
Die Diskussion, der Kompromiss, der Konsens, alle zivilisierten Formen des politischen Umgangs, waren ihm nicht nur fremd - er verachtete sie. Der Nationalsozialismus reduziert sich auf die Formel: Ausschalten, was uns nicht passt.
Der Wille zur Vernichtung des anders Denkenden, des anders Fühlenden, des anders Lebenden machte potentiell jedem zum Objekt einer monströsen Disziplinarmaschine. Auschwitz: In keinem Wort drückt sich diese Vernichtungspraxis erbarmungsloser aus.
Weil dies so ist, weil dies so sonnenklar ist, bleibt die Tatsache um so unbegreiflicher, dass noch heute, im Jahr 2011, Personen ihr Unwesen treiben, die all dies verleugnen, ja verteidigen. Dies macht einen denkenden Menschen beinahe rat- und hilflos. Aber nichts wäre fataler, als dieses Treiben nicht mit ganzer Kraft zu bekämpfen. Denn, vergessen wir nicht: Seit 1990 wurden mindestens 149 Menschen von Rechtsradikalen getötet.
Meine Damen und Herren,
wir alle wissen, wie tief der Nationalsozialismus ins Fleisch der deutschen Gesellschaft geschnitten hat. Wir alle wissen, wie kollaborationsbereit viele in der deutschen Gesellschaft waren.
Und weil wir dies wissen, überrascht immer wieder die Resonanz, die – auch heute noch – neue Untersuchungen zur Täterschaft im Nationalsozialismus hervorrufen. Einige von Ihnen haben sicherlich die Diskussionen um das Auswärtige Amt verfolgt, die eine jüngst publizierte Studie hervorgerufen hat. Man darf sich über die heftigen Reaktionen wundern. Denn Kriegsführung und Völkervernichtung sind wohl kaum ohne eine auswärtige Politik und deren Vertreter möglich.
Aber vielleicht deuten diese Reaktionen auf etwas viel Wichtigeres, Grundlegenderes hin. Ich meine die Tatsache, wie wenig wir - auch im Jahr 2011 - mit diesem Phänomen der gewalttätigen Herrschaft fertig sind. Ja vielleicht niemals fertig werden!
Meine Damen und Herren!
Wenn wir uns daher am Tag der Befreiung des KZ Auschwitz hier zusammenfinden, dann geschieht dies natürlich, um diese Erinnerung lebendig zu halten. Wir wollen heute sagen: „Vergesst nicht, dass dies möglich war. Vergesst nicht die Umstände, die dies ermöglichten. Vergesst nicht das Schweigen, das den Taten folgte.“
Damit hinterlässt uns der Tag der Befreiung eine enorme Aufgabe: Der Holocaust hat etwas Entsetzliches zum Vorschein gebracht, etwas, das unsere Wahrnehmung des Humanen zutiefst irritiert. Diese Last tragen wir von nun an mit uns. Seitdem wissen wir, dass wir schon kleinsten Auswüchsen an Fremdenfeindlichkeit und Rassismus entgegentreten müssen – um den Anfängen zu wehren.
Denn all die hat sich ja nicht irgendwo und in grauer Vorzeit abgespielt. Es passierte auch hier: vor unserer Haustür, in unserer Gemeinschaft, in unserer Stadt. Auch in Abtnaundorf warteten Tausende Zwangsarbeiter auf ihre Befreiung. Von hier wurde ein Großteil der Häftlinge auf den Todesmarsch geschickt. Am 9.Mai endete dieser Todesmarsch - ein Tag nach Kriegsende. Noch einen Tag später schoss ein deutscher Panzerwagen 86 Deportierte zusammen, die sich nicht versteckten, weil sie annahmen, es sei bereits alles vorbei.
Diese Erinnerung wach zu halten: Wir sind es den Opfern schuldig, denjenigen, die getötet wurden und denjenigen, die Auschwitz und Abtnaundorf überlebten. Und wir sind es uns und den Nachgeborenen schuldig, deren politische Existenz sich im Angesicht dieser Tatsachen beweisen muss.
Das Datum des 27. Januar fordert daher uns Leipziger in besonderer Weise heraus. Leipzig steht spätestens seit der Friedlich Revolution im Herbst 1989 für Gewaltlosigkeit und Zivilcourage. In unserer Stadt darf kein Platz sein für Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, für Ausgrenzung und Verachtung. Wir wollen durch unser alltägliches Tun beweisen: Die Menschen in Leipzig sind tolerant und weltoffen. Sie sind wachsam gegenüber allen Versuchen, die Grundregeln unserer Zivilität auszuhöhlen.
Meine Damen und Herren,
viele von Ihnen kennen den Roman von Anna Seghers „Das siebte Kreuz“. Ich musste in Vorbereitung des heutigen Tages an diesen Text denken, der wie kein zweiter die seelischen Abgründe der Lagerwelt zum Thema hat. Sie erinnern sich vielleicht an Ihre Schulzeit, wenn es um die Erzählung dieser Passion geht. Sieben Häftlinge fliehen, sechs werden gefaßt und im wahren Sinne des Wortes gekreuzigt. Einer entkommt und das bereits aufgestellte siebte Kreuz bleibt leer.
Aber dieses so düstere Epos endet mit einem hellen Ton. Und daran erinnerte ich mich in den letzten Tagen. Im Jahr 1940, zur tiefsten Zeit des nationalsozialistischen Terrors, war: Hoffnung. Die letzten Zeilen des Romans lauten:
„Doch an dem Abend, als man zum erstenmal die Häftlingsbaracke einheizte und das Kleinholz verbrannt war, das, wie wir glaubten, von den sieben Bäumen kam, fühlten wir uns dem Leben näher als jemals später und auch viel näher als alle anderen, die sich lebendig vorkommen. (...) Das letzte Fünkchen im Ofen verglühte. Wir ahnten, was für Nächte uns jetzt bevorstanden. Die nasse Herbstkälte drang durch die Decken, durch unsere Hemden, durch die Haut. Wir fühlten alle, wie tief und furchtbar die äußeren Mächte in den Menschen hinein greifen können, bis in sein Innerstes, aber wir fühlten auch, daß es im Innersten etwas gab, was unangreifbar war und unverletzbar.“
Man mag diese Sätze nicht kommentieren. Sie rühren an, sie berühren uns. Und dies aus einem sehr einfachen Grunde: Sie sprechen von der Hoffnung, dass das Böse - in welcher Gestalt und mit welcher Gewalt auch immer - nicht das letzte Wort hat. Wir können das Böse bannen, wenn wir es benennen. Das Böse ist von dieser Welt. Es hat Name, Adresse und Anschrift. Wir müssen aber den Mut haben, es zu tun - und wir müssen es sehr zeitig tun, wenn die Gefahr droht.
Meine Damen und Herren,
auch in diesem Jahr halten wir an der guten Tradition fest, die festliche Gedenkfeier mit Formen der aktiven Erinnerung zu verbinden. Ich darf Sie daher im Anschluss an unsere Kranzniederlegung ganz herzlich ins Neue Rathaus einladen. Hier werden wir eine kleine Fotoausstellung eröffnen, die, sehr geehrte Frau Generalkonsulin, der „Befreiung Leipzigs durch die US-Army im April 1945“ gewidmet ist. Ein herzlicher Dank an unser staatgeschichtliches Museum, das die Reproduktionen aus dem Magazin „LIFE“ vom 14. Mai 1945 zur Verfügung gestellt hat. Einige dieser Aufnahmen sind überaus bekannt und zählen zu den „Ikonen“ der Kriegfotografie des 20. Jahrhunderts. Der weltbekannte Robert Capa war einer der Foto-Reporter, die mit der US-Army in Leipzig einzogen. Jener Robert Capa, dessen Leipziger Gefährtin Gerda Taro 1937 im Kampf gegen den Faschismus im spanischen Bürgerkrieg ihr junges Leben ließ. So schließt sich der Kreis.
Stadt Leipzig
Der Oberbürgermeister
27. Januar 2011