Rede zur ersten bildungspolitischen Konferenz der Stadt Leipzig
Rede des Leipziger Oberbürgermeisters Burkhard Jung zur ersten bildungspolitischen Konferenz der Stadt Leipzig am 18. Oktober 2010.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, herzlich willkommen zu dieser ersten bildungspolitischen Konferenz der Stadt Leipzig. Zum Ersten freue ich mich sehr, dass diese Konferenz möglich geworden ist und dass als ein Arbeitsergebnis des Programms „Lernen vor Ort“ der Entwurf eines Bildungsreports Leipzig 2010 vor uns liegt. Ein umfangreiches Papier, das uns einlädt mitzuwirken, zu ergänzen, Hinweise zu geben, das eine oder andere noch mal auszudifferenzieren. Dazu soll die heutige Konferenz dienen. Punkt zwei: Wagen wir auch den Streit! Wir wollen uns nicht gegenseitig auf die Schultern klopfen, sondern wir wollen versuchen, die bildungspolitische Analyse zu nutzen, um das Thema Bildung in der Stadt miteinander besser zu gestalten. Wir wollen sagen, wo wir gut sind, aber wir sollten auch versuchen, es noch besser zu machen. Das sind meine beiden Vorbemerkungen
Warum ist Bildungspolitik eine zentrale Größe kommunaler Arbeit und kommunalen Handelns? Eine Stadt lebt vom Austausch und der Entwicklung der Technik, der Kultur und des geistigen Austauschs, von seiner Weitergabe und seiner Weiterentwicklung. Städte leben und arbeiten täglich mit den Anforderungen und den Ergebnissen von Bildung, ihren gewünschten aber auch unerwünschten Folgen. Wir wachsen als Städte mit hochwertiger Bildung und haben heftig mit dem Scheitern von Bildungsanstrengungen zu tun.
Insbesondere Leipzig ist eine Stadt, die über Jahrhunderte deswegen gewachsen ist, attraktiv war, weil hier eine Atmosphäre des Austausches, der kulturellen Aktivität, der internationalen Begegnung herrschte und unsere Stadt ein geistiges Klima besaß, das der Bildung verschrieben war. Dazu gehörte eine Messe, dazu gehörte eine Bürgerschaft, die Kultur als ein wesentliches Anliegen definierte, und dazu gehörte eben auch die technische und wissenschaftliche Erforschung und Eroberung der gesellschaftlichen Wirklichkeit.
Wir betreten also kein geschichtliches Neuland mit dem, was wir heute tun und doch ist vieles, was wir besprechen wollen, neuartig. Denn die objektiven Umstände, unter denen wir Bildung praktizieren und organisieren, werden zunehmend andere. Und meine These ist, das 21. Jahrhundert wird noch stärker als bisher ein Jahrhundert der Bildung werden. Gerade hier in Europa, wo wir keine Ressourcen haben, die wir als Bodenschätze exportieren können. Wir haben in Deutschland im Wesentlichen nur unsere Köpfe, mit denen wir bestehen können. Ein enormes Wissen ist gefragt, eine enorme Kooperation und ein enormer Erfindungsreichtum.
Was benötigt also ein Mensch an Befähigung und Kompetenzen, um mit den Entwicklungen und Problemen unserer Gegenwart, im Interesse eines befriedigenden Lebens und einer gerechten Gesellschaft, zurechtzukommen?
Das ist die Ausgangsfrage. Am Anfang meiner Rede, möchte ich daher kaleidoskopartig einige Beobachtungen von Veränderungen benennen, die unsere Bildungseinrichtungen vor ganz neue Herausforderungen stellen. Ich habe mir, ohne den Anspruch einer abschließenden und umfassenden Darstellung, einige Punkte an den Anfang gestellt.
Vor welchen Herausforderungen wir stehen:
- Die Veränderung der Arbeitswelt. Einige Stichworte dazu: Flexibilität, Teilzeitarbeit nehmen zu. Neue zeitliche und örtliche Verflechtungen von Arbeit und Freizeit greifen um sich. Wir reden über Zeitkonten, über Zeitarbeit, über Telearbeit. Ein häufigerer Wechsel von Beschäftigung findet statt. Anstellungsverhältnisse verändern sich: selbständig, angestellt, Familienarbeit. Beschäftigungszeiten werden variabel und Menschen müssen heute unglaublich mobil sein, um arbeiten zu können.
- Die demographische Entwicklung ist eine zentrale Variable. Die Zahl der jungen Menschen hat sich in einer Generation halbiert. In einer Generation halbiert! Die Anzahl der älter werdenden Menschen steigt stetig. Auch das schafft völlig neue Voraussetzungen für Bildung.
- Eine sozialräumliche Segregation ist unübersehbar. Bis zu einem Drittel der Kinder wachsen unter Armutsbedingungen auf, es gibt Bildungsverlierer. Zehn bis Fünfzehn Prozent eines Jahrgangs in Sachsen gehen ohne abgeschlossene Schul- oder Berufsausbildung ab. Damit wächst der Nachbildungsbedarf, gleichzeitig bleiben Bildungspotentiale unausgeschöpft, weil Bildungsformen nicht hinreichend begabungssensibel wirken.
- Bildungsbiographien greifen lebenslang. Wir sind eben nicht fertig. Letzte Woche habe ich das Seniorenkolleg an der Universität eröffnen dürfen und da gibt es eben den 75-Jährigen, der eine E-Mail an seine Enkel schreiben möchte.
- Die Nachfrage nach qualifizierten Schulabgängern und Absolventen beruflicher Ausbildung steigt. Seit Jahrtausenden beklagt sich die ältere Generation über die Nachkommenden. Aber, heute wird insbesondere über eine unzureichende Ausbildungsfähigkeit, einen Qualifizierungsmangel, gesprochen - auch weil die sogenannten einfachen Jobs immer weniger werden.
- Eltern wünschen sich zunehmend verlässliche Bildung, Erziehung und Betreuung über den ganzen Tag. Womit dem Aufwachsen in öffentlicher Verantwortung eine wachsende Schlüsselbedeutung zukommt.
- Die Verfügbarkeit über das gesamte globale Wissen via World Wide Web und der globale Austausch erlauben eine ungeheure Horizonterweiterung und erfordern gleichzeitig eine ungeheure Kompetenz der Differenzierung, um Sinn und Unsinn voneinander unterscheiden zu können.
Mit diesen sieben Punkten sei angedeutet, wo wir heute einen besonderen Handlungsbedarf haben. Der 12. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung reagiert auf diese Tendenzen. Er fordert eine kommunale
Bildungslandschaft für Kinder, Jugendliche und ihre Familien. Ein lokales Gesamtsystem für Bildung, Erziehung und Betreuung soll die Verengungen und Begrenzungen der Teilsysteme, Kinder- und Jugendhilfe und Schule, überwinden. Zentraler Ort einer solchen Bildungsplanung soll die Kommune sein. Damit müssen Städte und Gemeinden als Orte, an denen sich Bildungsbiographien vollziehen, entwickelt werden, in den Bildungslandschaften politisch diskutiert und gestaltet werden.
Hieraus ergeben sich zentrale bildungspolitische Fragen. Welche Aufgaben haben aus kommunaler Sicht Bildung, Erziehung und Betreuung, angesichts steigender Erwartungen der Bürger, bei zugleich chronischer Unterfinanzierung der Haushalte? Wo liegen und wieweit reichen die kommunalen Handlungsspielräume für die Herausbildung eines Gesamtsystems von Bildung, Erziehung und Betreuung vor Ort? Wie lässt sich überhaupt ein fortlaufender Diskurs über Bildung initiieren zwischen den Akteuren von Bildung, Erziehung und Betreuung, über die Zuständigkeitsgrenzen hinweg? Wie können die Ressourcen zwischen Schule, Jugendhilfe, Kultur oder Sport, stärker gebündelt und miteinander vernetzt werden und sich gegenseitig nutzend befruchtet werden? Und schließlich, wie lassen sich Zuständigkeiten und funktionale Netzwerke überhaupt in eine kommunale Verantwortungsgemeinschaft integrieren, wo Bildung doch Ländersache ist?
Meine Damen und Herren, um auf diese Fragen Antworten zu erhalten, hat die Stabsstelle "Lernen vor Ort" eine erste Bestandsaufnahme der Leipziger Bildungslandschaft vorgenommen. Dort werden Stärken und Schwächen erstmals auf gesicherter empirischer Grundlage zusammengefasst.
Ich möchte einige Grundaussagen herausgreifen, um den einen oder anderen Impuls zu geben, wie wir agieren müssen und wo Fehlentwicklungen vielleicht vermeidbar sind.
Ich beginne mit den fünf Stärken, die ich in diesem Bildungsreport aufgelistet sehe, und die unsere Stadt in besonderer Weise als Pfund einbringen kann:
- Leipzig verfügt über eine gut ausgebaute Betreuungsinfrastruktur im kindlichen außerschulischen Bereich mit weit überdurchschnittlichen Nutzerquoten. Während bundesweit nur ein Fünftel und in den alten Bundesländern nur 15% der Unter-3-Jährigen einen Betreuungsplatz hatten, sind es in Leipzig 2009 40%. 2009 wurdenin Leipzig fast 4300 Unter-3-Jährige in der Krippe und fast 1800 in der Kindertagespflege betreut. Das ist gut. Damit können wir auch mit berechtigtem Stolz deutlicher werben. Aber zur Wahrheit gehört, aufgrund der finanziellen Probleme in unseren Haushalten, richtet sich der weitere Ausbau der Kindertagesstätten-Netze immer stärker an der Finanzierbarkeit als an der tatsächlichen Bedarfsquote aus.
- In Leipzig hat sich eine Schullandschaft mit vielfältigen inhaltlichen und konzeptionellen Bildungsschwerpunkten entwickelt. Ich freue mich außerordentlich über die starke Profilierung und Differenzierung unserer öffentlichen Schulen. Da ist unglaublich viel passiert. Wenn ich Grundschule 2010 mit Grundschule 1991 vergleiche, liegen Welten dazwischen. Unsere Gymnasien haben sich entwickelt, profiliert, differenziert. Die Mittelschulen erfüllen eine unglaublich schwierige, anspruchsvolle Aufgabe und versuchen durch ihre Profilbildung Kinder und Jugendliche abzuholen und mitzunehmen. Dies ist richtig. Dennoch, meine These ist: Unser sächsisches Schulsystem segregiert und separiert. Dazu kommen wir später noch bei den Schwächen. Insbesondere zur Förderschulthematik und den Kindern und Jugendlichen, die keine Abschlüsse haben. Ein zweites Beispiel: In unserer Stadt haben wir eine reiche Trägerschaft, d.h. zahlreiche Schulen in freier Trägerschaft mit vielfältigen pädagogischen Konzepten. Aber es gehört zur Wahrheit auch dies auszusprechen: Wenn die Staatsregierung das Schulgeld für finanziell bedürftige Eltern nicht mehr übernimmt, dann wird sich die freie Schulträgerlandschaft genau in die Richtung entwickeln, die wir nicht wollen. Sie wird dann zu einer immer stärkeren elitären Veranstaltung. Also, sie wird gefährdet durch die Kürzungen an der falschen Stelle. Freie Schulen müssen offen bleiben für alle, sonst werden sie keine Ersatzschulen, sondern Angebotsschulen für besser Betuchte. Das müssen wir verhindern.
- Die Leipziger Hochschulen- und Forschungslandschaft hat eine herausragende Bedeutung, sowohl als Standortfaktor, als auch als Möglichkeit durch Hochschulbildung kritische Urteilskraft und sachliche Arbeitsqualifikation auszubilden. Eine breite Vielfalt von Studienmöglichkeiten hat einen überregionalen Einzugsbereich zur Folge. Derzeit kommen fast zwei Drittel der auswärtigen Studierenden aus Mitteldeutschland. Das heißt, wir haben überhaupt noch nicht ausgeschöpft, was national an Potential da ist, um Studierende nach Leipzig zu holen und auch international können wir besser werden. Die Hochschulen verstärken ihre Bemühungen als Brücke in die Berufe. Alle Hochschulen versuchen, durch die Einrichtung von Career Centers den Übergang in den Arbeitsmarkt zu unterstützen. Aber eine Schwäche Leipzigs besteht darin, dass wir keine Technische Universität haben. Wir haben eine wunderbare Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig, aber dennoch besteht eine technikwissenschaftliche Lücke gerade im Bereich einer vertiefenden Ingenieursausbildung, die wir dringend bräuchten.
- Durch die Angebote der Volkshochschule hat die Stadt Leipzig einen unmittelbaren Einfluss auf das lebenslange Lernen ihrer Bürgerinnen und Bürger. Mit erscheint das wichtig zu betonen, weil die Bedeutung der Volkshochschule oftmals unterschätzt wird. Im Jahr 2009 wurden 2.313 Veranstaltungen mit 26.425 Teilnehmerinnen und Teilnehmern durchgeführt. Am häufigsten in den Bereichen Sprachen, Gesundheit, Kultur, Gestalten. Und insbesondere die Deutschkurse, die Zertifikatskurse - The European Language Certificate - wurden sehr intensiv belegt. Und da sind wir bei dem Stichwort Migration, Integration. Hier macht die Volkshochschule einen hervorragenden Job. Allerdings, auch das muss gesagt werden, die einwohnerbezogene Betrachtung der öffentlichen Zuschüsse für Volkshochschulen, zeigt für den Freistaat Sachsen die unterste Rangposition. Ich habe am Wochenende sehr intensiv im Bildungsreport gelesen. 2,22 Euro pro Einwohner gibt man in Sachsen für Volkshochschulen aus. Bundesweit ist der Durchschnitt 4,82 Euro. Und jetzt soll noch einmal gekürzt werden.
- In Leipzig existiert eine große Vielfalt nicht formaler Bildungsangebote., vom niedrigschwelligen Bereich bis hin zur Exzellenzförderung. In der Soziokultur, im Kreativitätsbereich, in den Sportvereinen, in der Jugendarbeit. Ich möchte dies an einem Beispiel erläutern: an der Möglichkeit der musikalischen Bildung durch Musikschulen und freie Musiklehrerinnen und Lehrer, durch die Förderangebote an Musikschulen, bis hin zu den Ausbildungsmöglichkeiten im Rahmen des Thomanerchors und der Begabtenförderung der Musikhochschule. Ende 2009 lernten knapp 4000 Schülerinnen und Schüler an der Musikschule Johann Sebastian Bach, davon die allermeisten im instrumentalen und vokalen Hauptfachunterricht und in der musikalischen Elementarerziehung. Dies ist ganz wichtig! Und durch Initiativen wie "Jedem Kind sein Instrument" oder "Musik macht schlau" versucht die Bürgerschaft, insbesondere Kinder aus einkommensschwächeren Familien zu erreichen.
Meine Damen und Herren, soweit die Stärken. Aber in der Tat haben wir auch Schwächen in unserer Bildungslandschaft. Auch darüber müssen wir sprechen. Ich habe mir sechs notiert:
- Unser lokales Bildungssystem zeigt eine hohe sozialräumliche Selektivität. Wir sind in unterschiedlichen Stadtteilen völlig unterschiedlich
aufgestellt in Bezug auf die Bildungschancen, die Bildungsnutzung und auf gelingende Biographien. Sehr interessant ist eine Betrachtung der gymnasialen Bildungsempfehlung für das laufende Schuljahr. Sie zeigt eine standortbezogene Spanne - und das müssen Sie sich wirklich auf der Zunge zergehen lassen - von 4,2% bis 85,5%. Im Durchschnitt über die ganze Stadt liegt der Übergang von der Grundschule zum Gymnasium bei fast 53%. Aber es gibt Stadtteile, wo nur 4,2% der Kinder auf das Gymnasium wechseln. Da müssen wir ran. Da wird sich entscheiden, ob unsere Gesellschaft auseinander fällt oder ob wir versuchen, den sozialen Zusammenhalt zu erhalten. Die Standorte mit stark unterdurchschnittlichen Anteilen der gymnasialen Bildungsempfehlungen
sind natürlich, wen wundert es, überwiegend in jenen Ortsteilen zu finden, in denen einkommensschwache Haushalte leben. Diese Problemfelder sind selbstverständlich genau dort zu identifizieren, wo unsere Sozialreports, aber auch unser Integriertes Stadtentwicklungskonzept angreifen. - In vielen Bildungsindikatoren zeigt sich ein unterdurchschnittlicher Bildungserfolg der Jungen, der männlichen Bildungsteilnehmer. Ich finde es erschütternd, dass am Förderzentrum für Erziehungshilfe von 164 Schülerinnen und Schülern 151 Jungen sind. 151 Jungen von insgesamt 164 Schülern besuchen das Förderzentrum für Erziehungshilfe. Schulen zur Lernförderung: 54% Jungen. Schulen für geistig Behinderte: 58,5% Jungen. Der Anteil der Jungen an den gymnasialen Bildungseinrichtungen nimmt seit einigen Jahren stetig ab. Aktuell 45%. Obwohl der Anteil der Jungen je Geburtenjahrgang 52% beträgt. Doch nur 45% der Gymnasiastinnen und Gymnasiasten sind Jungen. Im sogenannten Übergangssystem des berufsbildenden Systems und damit nicht in einer regulären Berufsausbildung, befinden sich knapp 60% männliche
Jugendliche, die meist ohne schulischen Abschluss sind. Mit anderen Worten, unser Bildungssystem ist geschlechterselektiv. Hier ist eine intensive Diskussionsarbeit über Gründe und Gegenmaßnahmen zu führen. - Der folgende Punkt macht mir wirklich große Sorgen: Leipzig hat eine überdurchschnittliche Quote von Schulabbrechern. 7% des Abschlussjahrgangs 2009/10 blieben ohne Abschluss. Der überregionale Vergleich der Abschlüsse im Hauptschulbildungsgang zeigt für das Schuljahr 2009/10 eine Abbrecherquote von 25,3% für Leipzig, während landesweit 14,4% ohne Abschluss blieben. Spontan schoss mir das Leitmotiv des Christophorus Bildungswerks in den Kopf: "Keiner darf verloren gehen“. Wir können uns unmöglich in unserer reichen Gesellschaft leisten, dass 10% eines Jahrgangs keinen Abschluss haben. Das ist eine Vergeudung von öffentlichen Ressourcen und, noch viel schlimmer, eine Versündigung am einzelnen Kind. Und hier müssen wir ran. Durch bessere Abstimmung, durch bessere Kurse, durch integrativere Modelle. Ich glaube, wir sind noch längst nicht ansatzweise integrativ soweit, wie wir sein könnten. Wir selektieren anstatt zu integrieren.
- Die Schuleingangsphase stellt für fast ein Fünftel aller Kinder eine große Hürde dar. In den vergangenen Jahren wurden jeweils 10% eines Einschulungsjahrgangs entweder von der Einschulung zu rückgestellt oder zur Einschulung in Förderschulen empfohlen. Für weitere knapp 3% wird dann eine integrative Beschulung empfohlen. Und wenn sie dann noch einbeziehen, dass von den regulär eingeschulten Kindern im ersten Jahr 3% die erste Klassenstufe wiederholen, sind sie bei fast einem Fünftel aller Kinder, das im ersten Jahr nicht im Schulsystem ankommt. Da sind wir gefordert: in unseren Kindertageseinrichtungen, und das nicht nur im letzten Jahr vor dem Übergang zu den Grundschulen, sondern in der gesamten Laufzeit der Kindertagesstätten. 2004 gibt es einen radikalen Schnitt. Ich saß damals bei den Koalitionsverhandlungen in Dresden mit am Tisch und wir wollten erreichen, dass wir nicht so viele Kinder zurückstellen, weil die Zurückstellungsquote so enorm hoch war. Wir dachten damals, durch eine Lenkung der Rückstellerquote könnte es gelingen, integrativer zu arbeiten. Im Ergebnis - das muss man heute offen und auch selbstkritisch sagen - haben wir das Problem nur verlagert. Wir haben ungewollt segregiert und „Outdrops“ erzielt.
- Familienbildung und Elternarbeit erreicht die Familien und Gruppen mit den größten Bedarfslagen oftmals überhaupt nicht. Wir machen Deutschkurse für Mütter mit Migrationshintergrund, wir haben Familienangebote, Beratungsangebote, wir haben Kurse, Familienbegegnungsstätten werden ausgebaut - ich könnte noch viele weitere Beispiele nennen. Das Elternhaus hat eine absolut prominente Rolle bei der frühen Bildung. Aber wir erreichen kaum jene Gruppen, die besonders starke Unterstützung brauchen. Wie kommen wir da besser ran? Bitte diskutieren Sie das! Entwickeln Sie Lösungsansätze, damit wir mit unserem so knappen Geld, dann auch den Effekt erzielen die zu erreichen, die es wirklich brauchen. Weil eben keiner verloren gehen darf. Und damit bin ich auch bei dem Thema Integration und Migration. Lassen Sie uns nicht die Fehler der alten Bundesländer wiederholen. Wir haben in unserer besonderen Situation noch die Chance, stärker und individueller auf die im Verhältnis zu westdeutschen Städten wenigen ausländischen Kinder zuzugehen. Wir haben die Chance der tatsächlichen Integration, weil es zahlenmäßig zu bewältigen ist. Aber
wir müssen sie auch erreichen. - Es zeichnet sich ein Nachwuchsengpass im Bereich des pädagogischen Personals quer durch alle Bildungsbereiche ab. Nicht nur bei den Lehrerinnen und Lehrern. Ich denke, das weiß der Freistaat sehr gut. Natürlich ist es eine schwierige Situation, wenn Lehrer auf Vollzeit gehen und dadurch Stellen blockieren für junge Leute. Ältere Lehrer sind nicht die schlechteren, aber gesund ist eine vernünftige Mischung von jung und alt in Kollegien. Tatsächlich ist drei Viertel des pädagogischen Personals zwischen 40 und 60 Jahre alt und nur 3% sind jünger als 30 Jahre. In unseren Kindertagesstätten ist die Altersgruppe der 40 bis Unter-50-Jährigen am stärksten vertreten, gefolgt von den 50 bis Unter-60-Jährigen. Nur ein Viertel des Personals ist jünger als 30 Jahre. Fachkräfte werden abgeworben, gut ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer, Studierende, Absolventinnen und Absolventen verlassen Sachsen, gehen in die Altbundesländer. Dies betrifft Erzieherinnen ebenso, doch wir brauchen diese junge Leute, um die Mischung hinzukriegen.
Meine Damen und Herren, ich will es dabei bewenden lassen. Es gibt noch viele weitere Anhaltspunkte im Bildungsreport, bei denen wir gut beraten sind, Handlungsmaßnahmen abzuleiten, die wir 2012 hoffentlich verabschieden können. Wobei wir nicht warten sollten, um gute Ideen umzusetzen. Aber deutlich wird, Wissensvermittlung und Bildung müssen um individuelle Bildungsbegleitung ergänzt werden. Ich glaube, es reicht nicht mehr, so wie wir noch groß geworden sind, Kinder in die Schule zu schicken, am Schluss zu schauen, was herauskommt und dann geht das schon alles seinen Gang. Wir brauchen individuellere Konzepte von Bildungsmanagement und Begleitung. Wir brauchen neue Formen, ein verfeinertes Verständnis von lebenslangen Bildungsprozessen – individuell, gemeinschaftlich, in der Freizeit. Wir brauchen neue Lernmethoden, um Selbstbewusstsein zu stärken, zur Motivation und Selbstbildung beizutragen, um mehr Menschen zu erreichen und zur Selbstbildung zu befähigen. Und gerade die Städte werden ein Mehr brauchen. An interkultureller Kompetenz, an sozialer Kompetenz, an Methodenkompetenz, aber natürlich auch an Finanzmöglichkeiten. Bildungsberatung wird zunehmen, Bildungscoaching wird Einzug halten. Wir müssen neue, besser strukturierte Angebote entwickeln, modularisierte Abschlüsse und neue Curricula bereitstellen. Wir müssen die Übergangsphasen besser aufeinander abstimmen und Selbstbildung und Verwirklichung von Herzen überzeugt unterstützen.
Meine Damen und Herren, darauf aufbauend ist das Programm "Lernen vor Ort" eine Herausforderung und zugleich eine Chance für die Kommunen und für Leipzig. Es gibt uns einen zusätzlichen Schub, der eine folgerichtige Weiterentwicklung bestehender Ansätze ressortübergreifender und ganzheitlicher Organisation von Bildungim kommunalen Kontext ermöglicht.
Ich kann mich gut erinnern, als ich im Jahr 2000 – damals als zuständiger Schulbeigeordneter – in meinem Büro saß und meine bildungspolitische Leitlinien formuliert habe. Ich wollte, dass die Stadt Leipzig bildungspolitische Leitlinien verabschiedet. Das Papier liegt noch in meiner Schublade. Die Zeit war damals noch nicht reif, um dies einzubringen. Es wollte keiner! Die Überzeugung war: "Bildung ist Ländersache. Da mischen wir uns besser nicht ein, sonst müssen wir am Schluss finanzieren." Vielleicht hätte es sogar im Stadtrat noch mehrheitsmäßig einen Boden dafür gegeben, aber es gab die große Angst, bis hin zum deutschen Städtetag: "Vorsicht, Vorsicht, Vorsicht! In dem Moment, wo wir als Kommunen vorpreschen und solche Leitlinien entwickeln, könnten wir uns im Hinblick auf die Finanzierung ein Eigentor schießen.“ Das hat
sich gottlob geändert.
Wir haben eine neue Chance. Kommunen haben wichtige Kompetenzen in einer Vielzahl von Bildungsbereichen. Ob wir wollen oder nicht, wir sind Träger von Bildung! In der Jugendhilfe, in den außerschulischen Angeboten und im Schulbereich sind wir Sachaufwandsträger, zunehmend in inhaltlicher Verantwortung durch Ganztagsangebote. Durch die Zusammenarbeit mit dem Hort, mit Kindertagesstätten und anderen. Im Bereich der Weiterbildung gehört die Volkshochschule zum Regelangebot, eine Vielzahl weiterer Bildungseinrichtungen und bildungsnaher Institutionen ergänzen die Bildungsinfrastruktur. Öffentliche Bibliotheken, Musikschulen, Kinder- und Jugendkultureinrichtungen, Jugendkunstschulen, kulturpädagogische Dienste in Museen, Schauspielhaus, Oper, Theater der Jungen Welt und und und. Bildung und Erziehung von Kindern und Jugendlichen und Begleitung und Beratung von Eltern sind, ob wir wollen oder nicht, zentrale kommunale Gestaltungsfelder.
Kommunen sind bildungspolitische Akteure, die von den Bürgerinnen und Bürgern und der Wirtschaft vor Ort zunehmend gefordert werden. Welche Qualitäten zeichnet nun das Konzept "Lernen vor Ort" hier in Leipzig aus?
Wenn ich es richtig verstanden habe, glaubt man in der Vernetzung der Akteure, unterschiedliche Zuständigkeiten zu überwinden und in der Einbeziehung aller Bildungsbereiche innerhalb und außerhalb der Stadtverwaltung Zusammenführung zu organisieren. Um es deutlich zu sagen: Wir sollten uns nicht übernehmen. Ich sage auch dem Team "Lernen vor Ort": Hängt die Latte nicht zu hoch. Wir werden niemals als Stadt den gesamten Bildungsprozess in dieser Stadt steuern können. Aber wir können zusammenführen, wir können zusammenbringen und wir können Übergänge besser organisieren. In der Zusammenarbeit mit der Bildungsagentur, mit der Arbeitsagentur, mit der Wirtschaft, mit den Kultureinrichtungen und Jugendeinrichtungen können wir stärker aufeinander abgestimmte Bildungsbiographien begleiten.
Hüten wir uns vor einem zu hohem Anspruch, zu wissen, wie man Kinder auf den richtigen Weg führt. Aber wir können die Rahmenbedingungen verbessern. Eine so verstandene ganzheitliche Bildung steht für einen lebensbegleitenden Entwicklungsprozess, bei dem die geistigen, kulturellen und lebenspraktischen
Fähigkeiten sowie die personalen und sozialen Kompetenzen je nach Bedarf
entwickelt und erweitert werden können. Bildung bedeutet immer Kompetenzerwerb zur eigenständigen Lebensgestaltung. Menschen sollen noch stärker für das lebensphasenübergreifende Lernen motiviert werden.
Und natürlich geht es um Chancengleichheit. Mir ist ein ganz besonderes Anliegen, dass wir uns um die kümmern, die im Schatten stehen. Wenn wir so viel Zeit damit verbringen würden, diejenigen Kinder und Jugendlichen zu beachten, die keine Chance haben im System, wie wir das mit den sogenannten Hochbegabtendefiziten oftmals tun, hätten wir vielleicht bessere Erfolge. Unter dem Begriff Bildung verstehen wir also nicht nur die institutionalisierte Bildung, sondern lebensweltlich erfahrene Bildungsprozesse.
Begreift man Bildung als Ressource der biographischen Gestaltung, ist nicht nur das institutionalisierte kulturelle Kapitel, zum Beispiel der Schulabschluss, von Interesse, sondern es geht eigentlich im engeren Sinne um die jeweilige Selbstaneignungshaltung des einzelnen Menschen. Wir brauchen eine Pädagogik, die das Kind ganz ernst nimmt und diesem Kind die Chance gibt, eine Haltung zu entwickeln, lebenslang neugierig zu bleiben. Und derweil sollten wir uns auch den Institutionen zuwenden, stadtteilspezifisch unterschiedliche Handlungserfordernisse ausrichten, um Ausgrenzung und Teilhabehemmnisse abzubauen. In Abhängigkeit von der sozialen, wirtschaftlichen und städtebaulichen Situation ergeben sich nämlich in den einzelnen Stadtteilen ganz unterschiedliche Chancen aber eben auch Anforderungen - an die Vernetzung, an die Angebotsstruktur.
Und wir müssen Bildungspolitik als Chance für Stadtentwicklungspolitik begreifen und dies mit der integrierten Stadtentwicklungsplanung zusammendenken. Dann hätten wir was gekonnt. Die Stadt Leipzig will deshalb
im Zeitraum der Projektförderung von „Lernen vor Ort“ ein integriertes Bildungsmanagement aufbauen auf seine Steuerungseignung erproben,
indem die auf mehrere Ressorts verteilten Bildungszuständigkeiten vor Ort gebündelt und durch geeignete Konzepte und Handlungsansätze ergänzt werden. Und dies wollen wir im Diskurs mit der Bürgerschaft und dem Stadtrat tun. Eine solche Sicht zeigt die Möglichkeiten, die es in der Stadt gibt auf, weckt Neugier, ermöglicht Beratung. Und ich hoffe wir entdecken die Lücken - einige habe ich heute benannt. Als nächster Schritt folgt eine zentrale Bildungsberatungsstelle. Ich denke, das ist ein richtiger Ansatz: Eine zentral in der Stadt gelegene Anlaufstelle für übergreifende Bildungsfragen zu entwickeln. Ein strategisches Ziel ist das Gesamtkonzept bildungspolitischer Leitlinien. Dies werde ich dann mit dem abgleichen, was ich damals in 2000 geschrieben habe. Und dann wollen wir eine Bildungskonferenz zu einer ständigen Einrichtung machen - heute ist dazu der Auftakt. Und ich freue mich schon auf die bildungspolitische Stunde des Stadtrates. Wir haben uns jetzt entschieden, diese bildungspolitische Stunde nach der Haushaltsdebatte abzuhalten, damit wir uns dem Thema auch inhaltlich wirklich widmen können und es nicht in den Haushaltsfragen und Anträgen zum Haushalt 2011 untergeht.
Zum Schluss, meine Damen und Herren: Unser Blick auf Bildung ist ganzheitlich, lokal und lebensphasenübergreifend ausgerichtet und wir möchten die Potentiale in unserer Stadt bei der Infrastrukturgestaltung, aber auch bei dem Thema Beteiligung und Vernetzung herausgreifen. Wir wollen eine facettenreiche kommunale Bildungslandschaft, vom Schulbiologiezentrum bis zum Museum für Schulgeschichte oder Demokratie, vom Jugendkultur- oder medienpädagogischen Zentrum, vom Kinder- und Jugendmuseum LIPSIKUS bis zum Seniorenstudium. Biographie umfassend ist der Blick. Bildung ist ein integrativer Teil der Stadtentwicklung und ein entscheidender Standortfaktor. Eine zentrale Erkenntnis sollte Raum greifen: Bildung ist eben viel mehr als Schule und Hochschule. Sie ist eine Gestaltungsaufgabe über viele Ressorts für die gesamte Lebenszeit. Am Schluss: herzlichen Dank dem Team! Ich habe mit großem Interesse den Bildungsreport gelesen. Ich wünsche Ihnen Kraft und Luft in der Diskussion. Und noch einmal: Streiten Sie miteinander über die richtigen Konzepte! Sachlich und besonnen, aber ich denke die Kinder und Jugendlichen und unsere Stadt sind es wert!
Stadt Leipzig
Der Oberbürgermeister
18. Oktober 2010