Rede zur Internationalen Bürgermeisterkonferenz "Stadtentwicklung und Demokratie"
Rede zur Internationalen Bürgermeisterkonferenz "Stadtentwicklung und Demokratie" am 8. Oktober 2009 im Grassi-Museum.
Liebe Frau Prof. Sassen,
ich darf Sie ganz herzlich hier in Leipzig willkommen heißen. Wir sind uns der großen Ehre bewusst, dass eine der bedeutendsten Vertreterinnen einer globalen Stadtsoziologie und damit der Globalisierungstheorie heute unter uns weilt. Wir sind außerordentlich gespannt auf Ihren Vortrag.
Liebe Kolleginnen und Kollegen aus Europa, Afrika, Asien und Amerika! Ich bin glücklich, dass Sie so zahlreich dieser Konferenz und den Feiern aus Anlass des 20. Jahrestages der Friedlichen Revolution beiwohnen. Die Monate um die Jahreswende 1989/1990 haben die Welt verändert. Hier in Leipzig, dies hat uns 1999 der große englische Historiker Eric Hobsbawm bei der Verleihung des „Leipziger Buchpreises zur europäischen Verständigung“ ins Stammbuch geschrieben, wurde im Herbst 1989 Weltgeschichte gemacht.
Wir sind aufgeklärt und demütig genug, die damaligen Ereignisse als Verpflichtung zu begreifen. Wir nehmen den Herbst 1989 zum Anlass, uns politisch selbst zu befragen, uns mutig den Problemen unserer Zeit zu stellen, Antworten auf die Fragen zu suchen, die uns die globalen Verhältnisse des 21. Jahrhunderts für unsere Städte und unsere Welt aufgeben. Deshalb diese Konferenz, deshalb unsere weitgesteckten Feierlichkeiten, deshalb unser Wille, Leipzig zu einem Ort zu machen, an dem auch in den kommenden Jahren die Frage diskutiert wird, wie es um die Politik und die Demokratie im 21. Jahrhundert bestellt ist.
Ihnen allen daher ein herzliches Willkommen zu unserer Konferenz „Stadtentwicklung und Demokratie: Visionen für das kommende Jahrzehnt“. Wir begreifen die Friedliche Revolution von 1989 als politische und moralische Legitimation unserer heutigen Begegnung.
Meine Damen und Herren,
wir begegnen uns in einem sehr präzisen Moment unserer Geschichte. In unseren Städten müssen wir den Übergang von der klassischen Industrie- in die moderne Wissensgesellschaft bewerkstelligen - mit all ihren Schwierigkeiten und Verwerfungen. Gleichzeitig stehen mitten in den Veränderungen, die gemeinhin mit dem Begriff der „Globalisierung“ beschrieben werden.
Frau Prof. Sassen hat in ihrem letzten großen Buch mit dem deutschen Titel „Das Paradox des Nationalen“ die zentrale Behauptung aufgestellt (und auf fast 750 Seiten brillant belegt), dass „das Globale seinen Ursprung im Innern des Nationalen hat.“ Die Globalisierung ist kein Prozess, der über unseren Köpfen stattfindet. Die Globalisierung hat nationale Namen, Adressen und Anschriften. So lese ich Ihre These.
Ja, ich möchte noch einen Schritt weitergehen. Wenn das Globale sich durch die nationalen Wirklichkeiten verwirklicht, dann muss man ebenso sagen: Das Globale hat seinen Ursprung auch im Innern des Lokalen, des Urbanen. Welchen Gehalt und welche Gestalt diese sogenannte „Globalisierung“ annimmt, wird in unseren Städten entschieden: in Addis Abeba und Birmingham, in Gdansk und Herzliya, in Houston und Kiew, in Leipzig und Manchester, in Stockholm und Thessaloniki usw.
Natürlich geschieht dies auf höchst unterschiedliche Weise. Die Gegebenheiten und damit die Möglichkeiten von Travnik und Wien sind kaum miteinander zu vergleichen, ebenso die von Addis Abeba und Lyon. Worüber wir uns allerdings verständigen können, sind politische Standards, die wir verbindlich machen wollen: sozusagen eine urbane Agenda für eine globale Städtegesellschaft. Auf unserer Konferenz wollen wir uns daher vor allem mit drei Fragen beschäftigen:
- wie wir Dienstleistungen für alle Menschen garantieren können,
- wie es um die Bildung und den sozialen Zusammenhalt unserer Städte bestellt sein soll,
- welche Formen von Beteiligung und, so sagt man heute, „governance“ wir anstreben.
Über die Verwirklichung dieser Zielsetzungen werden wir streiten müssen, in den Städten, in den Ländern, in Europa – und darüber hinaus. Denn Europa darf sich nicht damit bescheiden, was es aktuell ist. Europa definiert sich auch dadurch, was es werden will.
Eine derartiger Anspruch hat nichts mit einer eurozentristischen Sichtweise zu tun. Umbruchsituationen bieten stets die Gelegenheit, die „Geschäftsgrundlage“ zu klären. Wir werden, national wie international, nicht umhin kommen, neu über die Prinzipien unseres Zusammenlebens nachzudenken. Und wir werden es im globalen Austausch tun müssen.
Die globale Situation erzwingt es geradezu, im Hinblick auf die neuen Zusammenhänge und Verschmelzungen Maßstäbe zu setzen, die uns selbst herausfordern und anderen als Orientierung dienen können – ohne, wem auch immer, ausgefeilte Modelle aufzuzwingen. Tatsächlich besitzen unsere sozial intakten und politisch steuerbaren städtischen Gemeinwesen bereits eine globale Strahlkraft, ohne dass wir es uns zugestehen. Und diese Tatsache, meine Damen und Herren, besitzt einen sehr realen Hintergrund.
Denn auch in der globalen Stadtgeschichte befinden wir uns an einem neuralgischen Punkt. Zum ersten Mal in der Geschichte des homo sapiens leben im Jahr 2009 mehr Menschen in Städten als auf dem flachen Lande.
Im Oktober 2003 hat das „United Nations’ Human Settlements Programme“ (UN-Habitat) diese Tatsache in einem vielbeachteten Dokument publik gemacht. Die Studie trägt den Titel „Slums der Welt: Das Gesicht der urbanen Armut im neuen Jahrtausend ?“ Die Studie endet mit einem wohlwollenden Fragezeichen. Denn sie konstatiert eine Urbanisierung, die weitgehend ohne eine entsprechende industrielle Basis, ohne eine Modernisierung der Wohn- und Verkehrsverhältnisse, ohne eine politische Beteiligung der Betroffenen vonstatten geht. Das Resultat dieser naturwüchsigen Prozesse sind plebejische Lebenswelten in Mega- (mehr als 8 Millionen Einwohner) und Hypercities (mehr als 20 Millionen), die in ihrer ‚Qualität’, wenn dieses Wort hier erlaubt ist, an die Beschreibungen der frühindustriellen Elendsquartiere bei Charles Dickens oder Victor Hugo erinnern.
Für das Jahr 2050 rechnet diese Studie mit 10 Milliarden Städtebewohnern. Davon leben 95 % in der sogenannten ‚Dritten Welt’. Die urbane Bevölkerung Chinas, Indiens und Brasiliens wird dann das zahlenmäßige Niveau der Städtelandschaften Europas und Nordamerikas erreicht haben.
Diese Tatsachen sind an dieser Stelle nicht weiter zu diskutieren. Aber wir sollten uns allemal auf eine politischen Haltung hin verständigen, die diese globale Dimension in Rechnung stellt. Vieles an sozialer Sicherheit, an einem reichen kulturellem Angebot, an gesundheitlicher Versorgung und - vor allem - politischer Mitsprache, das uns selbstverständlich erscheint, ist in dieser Welt-Perspektive eine reine, aber dennoch wohlklingende Zukunftsmusik.
Meine Damen und Herren,
gerade wir Politiker schweben häufig in der Gefahr, in der Hektik der täglichen Termine und Entscheidungen die großen Dimensionen aus den Augen zu verlieren. Auf unserem Stundenplan ist wenig Raum für grundsätzliches Nachdenken und ruhige Reflexion. Heute und in den kommenden beiden Tagen wollen wir uns diese Zeit nehmen. Ich hoffe, es wird uns gelingen.
Am Anfang der europäischen Stadtgeschichte hat der griechische Philosoph Aristoteles der Lebenswelt namens Stadt attestiert: „Eine Stadt besteht aus unterschiedlichen Arten von Menschen, ähnliche Menschen bringen keine Stadt zuwege.“ Sehen wir also, so mein Wunsch und meine Hoffnung, unsere unterschiedlichen Herkünfte und Geschichten als Chance, aus dem Differenten ein vielstimmiges Gemeinsames zu machen.
Herzlich willkommen in Leipzig!
Es gilt das gesprochene Wort!