Leipzig - Rundgang zur Friedlichen Revolution
Folgen Sie uns auf einem Rundgang zu einer Reihe von Stätten des welthistorisch bedeutsamen Herbstes 1989 in Leipzig. Alle Orte werden zunächst mit dem Namen vorgestellt, den sie damals trugen, um anschließend ihre Herkunft zurückzuverfolgen bzw. ihre weitere Entwicklung aufzuzeigen.
Die Friedliche Revolution des Herbstes 1989 lebt im Gedächtnis der Leipziger durch tausende persönlicher Erinnerungen fort. Es ist ein gespeicherter Schatz erlebter Geschichte, den die Menschen bewahren. Die umwälzenden, aufwühlenden Veränderungen jener Wochen lassen sich nicht zuletzt an markanten Orten ablesen.
Es handelt sich dabei einerseits um die Brennpunkte des Geschehens mit mehr oder weniger direktem Bezug zu den Ereignissen und andererseits um wichtige Orte und Bauwerke, deren Wandel ohne das Aufbegehren der Leipziger unerklärlich bleiben würde.
Landmarken der Friedlichen Revolution in der "steinernen Chronik" der Stadt Leipzig
- Nikolaikirche
- Alte Nikolaischule
- Interpelz-Gebäude
- Bezirksverwaltung des Ministeriums für Staatssicherheit
- Rückwärtiger Anbau an die Bezirksverwaltung MfS
- Wehrbezirkskommando
- Sowjetische Militärabwehr
- SED-Bezirksleitung
- Rat des Bezirks
- SED-Stadtleitung
- Sender Leipzig
- Gewandhaus
- Hauptpost
- Hauptbahnhof
- Fußgängerbrücke
Nikolaikirche
Mitten im Leipziger Häusermeer gelegen, lud das protestantische Gotteshaus seit 1982 mit der heutzutage unspektakulär scheinenden, damals jedoch höchst selbstbewussten Aufforderung "Nikolaikirche - offen für alle" zu den Montagsgebeten ein.
Aus dem Dialog über die bedrückenden geistigen, politischen und wirtschaftlichen Zustände in der DDR entwickelte sich im Laufe des Jahres 1989 ein nicht mehr aufzuhaltender, immer öffentlicher werdender Massenprotest. Er entlud sich am 9. Oktober 1989 in der mit geschätzten 70.000 Teilnehmern unglaublich angeschwollenen Montagsdemonstration, die auf das Montagsgebet folgte und den "Tag der Entscheidung" markierte. 8.000 aufgebotene und bereits postierte bewaffnete Kräfte zogen sich zurück.
Die gewaltsame "chinesische Lösung" wie vier Monate zuvor auf dem Tienanmen-Platz in Peking konnte vermieden werden. So begann die Friedliche Revolution. Der in Teilen auf die Jahre um 1170 zurückzuverfolgende Kirchenbau bildete den Ausgangspunkt einer Freiheitsbewegung von weltgeschichtlicher Dimension.
Alte Nikolaischule
Viel mehr als ein verfallenes Gebäude an der Nordseite des Nikolaikirchhofs sahen die Teilnehmer der Montagsgebete nicht, als sie die Nikolaikirche verließen.
Die Alte Nikolaischule war eines derjenigen historischen Gebäude, die angesichts ihres Verfalls bei den Leipzigern Wut und Verzweiflung aufkommen ließen. Das Haus befand sich trotz seiner großen kulturgeschichtlichen Bedeutung am Ende der 1980er Jahre in einem ruinösen Zustand. Hofgebäude und Treppenhaus mussten bereits 1986 abgetragen werden.
Die Alte Nikolaischule geht auf ein 1512 an dieser Stelle errichtetes und seither mehrfach umgebautes Gebäude zurück. Der Bau wurde unter finanzieller Beteiligung der Leipziger Partnerstadt Frankfurt/Main 1991 - 1994 saniert, mit einem sehenswerten Treppenhaus ergänzt und dient heute der gastronomischen, musealen und Veranstaltungs-Nutzung, insbesondere durch die Kulturstiftung Leipzig.
Interpelz-Gebäude
Architektonisch kaum erwähnenswert, flankierte das Bürogebäude des Außenhandelsbetriebs Interpelz die Westseite des Nikolaikirchhofs. Dass dieses Haus überhaupt eine Rolle spielte, lag an der Überwachungskamera auf dem Dach, die im Herbst 1989 als eine der letzten Repressionsmaßnahmen der geschwächten Staatsmacht gegenüber der Nikolaikirche installiert wurde und den Zorn der Leipziger auf die Spitze trieb.
Nach mehrfach wechselnden Zwischennutzungen verschwand das Interpelz-Gebäude im Herbst 2007 aus dem Stadtbild, um Platz für den Neubau des Mittelklassehotels „Motel One“ zu machen.
Bezirksverwaltung für Staatssicherheit / ''Runde Ecke''
Als Symbol des Unterdrückungsapparats dürfte die Bezirksverwaltung der Stasi das gefürchtetste Gebäude der gesamten Stadt gewesen sein.
Daran kann auch das schon zu DDR-Zeiten halb verschwörerisch gebräuchliche und eigentlich recht freundlich klingende Codewort "Runde Ecke", das auf den Gebäudegrundriss zurückgeht, nichts ändern.
Als einer der Höhepunkte der Friedlichen Revolution gilt die Besetzung der Leipziger Stasi-Zentrale durch Montagsdemonstranten am 4. Dezember 1989.
Das Gebäude wurde anschließend vom Bürgerkomitee geschützt, um die Aktenvernichtung zu stoppen und um Übergriffe zu vermeiden.
Das Bürohaus entstand 1912/13 als Verwaltung für die Leipziger Feuerversicherungs-Anstalt. Es diente zwischen 1945 und 1989 durchgängig geheimdienstlicher Nutzung, bevor hier 1991 die Gedenkstätte "Museum in der 'Runden Ecke'" mit seiner Dauerausstellung "Stasi - Macht und Banalität" einzog.
Zudem nutzt die Außenstelle Leipzig der Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) einen großen Teil des Hauses. Im BStU kann jeder prüfen lassen, ob das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) eine Akte über ihn führte und diese auf Antrag einsehen. Auch kostenlose Archivführungen werden angeboten.
Rückwärtiger Anbau an die Bezirksverwaltung des MfS
Der triste, graue Betonklotz stammt aus den 1970er Jahren. Er symbolisierte für jedermann sichtbar die Expansion der Überwachungs-Aktivitäten der Stasi, insbesondere während der Leipziger Messen.
Ein Teil der umfangreichen Antennenanlage ist bis heute auf dem Dach erkennbar. Der Anbau der Stasi-Bezirksbehörde wurde vom basisdemokratischen „Runden Tisch“ der Stadt Leipzig am 7. März 1990 für eine Reihe von Jahren dem Arbeitsamt zugesprochen.
Welche Bebauung an dieser Stelle einmal folgen wird, ist offen. Immerhin handelt es sich um wertvolle Grundstücke rund um den historischen, im Krieg verloren gegangenen Matthäikirchhof, den historischen Ausgangspunkt der fast tausendjährigen Stadt Leipzig.
Wehrbezirkskommando
In einer aufgewühlten Atmosphäre war bereits am 4. Oktober 1989 vom Verteidigungsminister der DDR die Weisung ergangen, im Militärbezirk III (Leipzig) die erhöhte Gefechtsbereitschaft auszulösen. Dass es fünf Tage später, am entscheidenden Tag der Friedlichen Revolution, zu keiner Gewaltanwendung kam, weil die nach Leipzig beorderten Streitkräfte untätig blieben, war dem Aufruf "Keine Gewalt" der "Leipziger Sechs" mit Gewandhauskapellmeister Kurt Masur und dem besonnenen Auftritt der ca. 70.000 Montagsdemonstranten zu verdanken.
Die Stadtvilla, in der sich das Wehrbezirkskommando befand, stammt aus dem Jahr 1925. Nach umfangreicher Renovierung ist sie heute Sitz des Gesundheitsamtes und des Senioren- sowie des Behindertenbeirats der Stadt Leipzig.
Sowjetische Militärische Abwehr
Kein Schild am Eingang wies darauf hin, dass hier über Jahrzehnte hinweg eine exponierte Außenstelle des Geheimdienstes der sowjetischen Streitkräfte eingezogen war. Von dieser stillen Seitenstraße im Stadtteil Gohlis aus wurden alle Geschehnisse in Leipzig misstrauisch verfolgt und registriert. Welche Funksprüche aus diesen Mauern am 9. Oktober 1989 nach Moskau abgesetzt wurden, ist noch immer unbekannt. Doch mit dem in Gang gekommenen Umbruch im Osten Deutschlands und mit der deutschen Einheit mussten die russischen Nutzer das Gebäude räumen und bis Juli 1994 an das Bundesvermögensamt übergeben.
Das schmucke Stadthaus entstand 1907 als Kommandantenvilla. Nach denkmalgerechter Sanierung beherbergt es heute das Sächsische Finanzgericht.
SED-Bezirksleitung
Mehr als zwei Kilometer vom Stadtzentrum entfernt befand sich 40 Jahre lang das "Große Haus", die Zentrale der Staatspartei SED für den Bezirk Leipzig. Dort war auch die Leipziger Einsatzleitung angesiedelt, die nach den Vorgaben "von oben" auf eine gewaltsame Eskalation der politischen Ereignisse am 9. Oktober 1989 eingestellt war. Doch vor dem geballten Volkswillen schreckten die Machthaber in den entscheidenden Stunden zurück.
Das Bürogebäude entstand in den 1920er Jahren für eine Landwirtschaftsbank. Es dient inzwischen einer Vielzahl von Nutzern als Firmensitz bzw. für Freizeiteinrichtungen.
Rat des Bezirks Leipzig
Direkter Nachbar der SED-Bezirksleitung war der Rat des Bezirks – die staatliche Verwaltung in der zentralistischen Struktur der DDR. In diesen Räumen dürften die Entscheidungen für manche Wahlfälschung gefallen sein, mit denen der Unmut und später der Proteste der Menschen herausgefordert wurde.
Das repräsentative Haus wurde 1923 – 1926 als Sitz der Oberpostdirektion gebaut. Es war 1990 – 1995 der erste Sitz des damaligen Regierungspräsidiums Leipzig nach der Wiedererrichtung der Länder im Osten Deutschlands und ist nach Um- und Ausbauten unter dem Namen Lipsius-Bau mittlerweile ein Lehr- und Institutsgebäude der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur.
SED-Stadtleitung
Am 10. Januar 1990 erhielten die vielen neuen politischen Interessenverbände, die allesamt ein Produkt der Friedlichen Revolution waren und dringend geeignete Räume brauchten, jenes symbolträchtig „Haus der Demokratie“ genannte Gebäude zugesprochen. Der dreigeschossige Bau entstand 1907 als Waisenhaus der Stadt Leipzig. In seine wechselvolle Geschichte fallen die Nutzung als Projektierungsbüro für den Maschinenbau, anschließend als Sitz der SED-Stadtleitung und schließlich die heutige Funktion als demokratische Begegnungs- und Veranstaltungsstätte.
Sender Leipzig
"Keine Gewalt" - nach Wochen der Sprachlosigkeit der selbst ernannten obersten Lenker der DDR bei gleichzeitiger Zuspitzung der prekären Wirtschaftslage und des Ausreiseproblems wirkte der Aufruf sechs mutiger und engagierter Leipziger (Kurt Masur, Bernd-Lutz Lange, Peter Zimmermann, Kurt Meyer, Jochen Pommert und Roland Wötzel) endlich deeskalierend.
Die weitere Entwicklung stand auf des Messers Schneide, als am 9. Oktober 1989, um 18 Uhr der Aufruf vom Sender Leipzig ausgestrahlt und anschließend im Stadtfunk verlesen wurde. 18:25 Uhr zogen sich die bewaffneten Einheiten zurück und zehntausende Leipziger begannen, friedlich über den Innenstadtring zu demonstrieren.
Das Funkhaus des Mitteldeutschen Rundfunks mit seiner expressiven Ziegelfassade geht auf einen Entwurf des bekannten Leipziger Architekten Emil Franz Hänsel zurück. Das Haus wurde 1929 bezogen, beherbergte später den Sender Leipzig von Radio DDR und bildete ab 1991 den Ausgangspunkt für die entstehende Drei-Länder-Anstalt MDR innerhalb der ARD.
Nach dem Umzug des MDR in sein neues Sendezentrum steht das historische Gebäude seit nunmehr fast zehn Jahren leer und wartet auf eine neue Nutzung.
Gewandhaus
Einen „Dialog am Karl-Marx-Platz“ versprach am 22. Oktober 1989 erstmals das Forum in dem prominenten Konzerthaus. Der Saal, in dem sich die „Leipziger Sechs“, die am 9. Oktober 1989 mit Kurt Masur an der Spitze öffentlich zum Gewaltverzicht aufgerufen hatten, nun der Diskussion brennender Fragen stellten, konnte die Massen interessierter Bürger gar nicht fassen. Deshalb wurde der Dialog live in Treppenhäuser und auf angrenzende Flure übertragen. Fortan gab es bis kurz vor Weihnachten 1989 in der sturzbachartigen Beschleunigung des revolutionären Umbruchs einen festen Rhythmus: am Sonntagmorgen „Dialog im Gewandhaus“, am Montagabend friedliche Demonstration um den Promenadenring.
Das Gewandhaus entstand 1977 – 1981 nach dem Entwurf eines Kollektivs unter der Leitung von Rudolf Skoda als Spielstätte für das älteste bürgerliche Orchester der Welt. Es war der erste und zugleich bedeutendste Konzerthallenneubau in der DDR.
Hauptpost
Eine große Zahl historischer Aufnahmen des damaligen Karl-Marx-Platzes aus den 1989er Revolutionstagen auf die Minute genau zu datieren, fällt nicht schwer: Die markante Uhr mit ihren Leuchtziffern an der Fassade der Hauptpost erleichtert die Arbeit des Chronisten. Mittlerweile ist die Uhr längst verschwunden, und das leerstehende Gebäude der Hauptpost wird einem Umbau mit geänderter Appartement-Nutzung unterzogen.
Die 1961 – 1964 nach einem Entwurf des Architektenkollektivs unter Leitung von Kurt Nowotny entstandene Hauptpost zählt zu den gelungensten Gesellschaftsbauten der 1960er Jahre und repräsentiert ein Stück DDR-Moderne jener Zeit.
Hauptbahnhof
Wäre es am 9. Oktober 1989 zu den befürchteten gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und friedlichen Demonstranten gekommen, wäre der Hauptbahnhof als "zentrales Objekt" entsprechend der erhöhten Gefechtsbereitschaft durch Hundertschaften von Unteroffiziersschülern aus Delitzsch und Bad Düben gesichert und abgesperrt worden. Weil die Ereignisse einen friedlichen Verlauf nahmen, zogen die Menschen stattdessen bei jeder Montagsdemonstration unbehelligt an diesem markanten Riesenbau vorbei.
Der Hauptbahnhof geht auf einen Entwurf der Dresdner Achitekten Lossow und Kühne zurück. Der 4. Dezember ist sein Schicksalstag: Der größte europäische Kopfbahnhof wurde am 4. Dezember 1915 eröffnet und am 4. Dezember 1943 beim ersten schweren Bombenangriff auf Leipzig in weiten Teilen zerstört. Am 4. Dezember 1965 war der komplette Wiederaufbau abgeschlossen. Zwischen 1994 und 1997 durchlief die riesige Verkehrsstation eine wesentliche Neu-Belebung durch die Integration des Einkaufs- und Erlebniszentrums "Promenaden Hauptbahnhof."
Fußgängerbrücke
Im Grunde nur ein rein funktionales Bauwerk zwecks sicherer Überquerung von Fahrbahnen und Straßenbahngleisen auf diesem belebten Platz, gewann die als „Blaues Wunder“ bekannte Fußgängerbrücke während der Friedlichen Revolution Bedeutung als exzellenter Fotostandpunkt, um die ganze Breite der Demonstrationszüge einzufangen.
Die Fußgängerbrücke ging auf ein Projekt aus den 1960er Jahren zurück und musste 2005 in Vorbereitung auf die Fußball-Weltmeisterschaft am Spielort Leipzig einer geänderten Verkehrslösung weichen.
[Die Texte zu den Landmarken sind von Dr. Helge-Heinz Heinker.]