Drucker, Renate - Leipziger Frauenporträts
Prof. Dr. Renate Drucker bei einem Besuch im Universitätsarchiv Leipzig 2005 © Universitätsarchiv Leipzig Bilder vergrößert anzeigen
Rubrik
- Wissenschaft
geboren/ gestorben
11. Juli 1917 (Leipzig) - 23. Oktober 2009 (Leipzig)
Zitat
"Eigentlich wollte ich Jura studieren..."
Kurzporträt
Prof. Dr. Renate Margarethe Drucker leitete ab 1950 als erste Direktorin des Leipziger Universitätsarchivs dessen Wiederaufbau und Institutionalisierung. 1993 war sie Mitbegründerin und bis 2003 Vorsitzende der Ephraim-Carlebach-Stiftung Leipzig.
Herkunftsfamilie
- Eltern: Martin (1869-1947) und Margarethe Drucker (1873-1939)
- Geschwister:
- Martina (1903-1992)
- Heinrich (1905-1945)
- Peter (1914-1942)
Biografie
Im Juli 1917 wurde Renate in Leipzig als jüngste Tochter in der Rechtsanwaltsfamilie Martin und Margarethe Drucker geboren. Nach dem Schulbesuch in Leipzig und dem Gymnasialabitur auf Schloss Salem in Baden begann sie im Oktober 1936 ein Studium an der Universität Leipzig. Zu ihren ersten Wahlfächern zählten vor allem die Sprachen, sie hörte Vorlesungen in der Germanistik, der Orientalistik und in der Anglistik und nebenbei auch ein wenig Geschichte.
Doch die aufstrebende und intelligente junge Frau, die aus einer gutbürgerlichen Leipziger Familie stammte, fand sich plötzlich im Rassenwahn des Nationalsozialismus gefangen. Im April 1938 wurde ihr als sogenanntem "Mischling II. Grades" ein unbefristetes Studienverbot an der Universität Leipzig ausgesprochen. Der fehlende "Arier-Nachweis" sorgte fortan für einen unablässigen Druck auf die Familie, dem die junge Frau sich nur schwer entziehen konnte. Der beginnende Zweite Weltkrieg verschlimmerte die Situation zusätzlich. Renate Drucker galt nun als arbeitslos und nicht vermittelbar; eine lebenswerte Zukunft in Deutschland war für sie kaum noch vorstellbar.
Gegen alle Erwartungen wurde ihr 1941 wieder eine Immatrikulation an der Universität Leipzig erlaubt und sie durfte als unerwünschte, aber geduldete Studentin erneut Lehrveranstaltungen besuchen. Wissenschaftlich orientierte sie sich nun auf andere Fächer und legte den Studienschwerpunkt auf die Geschichtswissenschaft, mittelalterliches Latein und historische Hilfswissenschaften.
An eine Prüfungszulassung war in Leipzig nicht zu denken, ein Staatsexamen war für Juden nahezu unmöglich. So musste sie an die Universität Straßburg ausweichen, wo die ihr wohlgesinnten Historiker Hermann Heimpel (1901-1988) und Walter Stach (1890-1955) ihre Promotion beförderten. Wenige Stunden vor dem Einmarsch der US-Truppen bestand sie im November 1944 noch ihre Prüfungen zum Doktorexamen. Zusammen mit dem Lehrkörper der so genannten Reichsuniversität wurde sie wenige Stunden später nach Tübingen evakuiert. Nach einer abenteuerlichen Heimreise in das zerbombte Leipzig fand sich Renate Drucker bald auf der Flucht. Gemeinsam mit ihrer Familie hatte sie Leipzig verlassen und versteckte sich in Jena, um den Vater, der als ehemaliger Reichsanwalt und bekannter Strafverteidiger, ohnehin schon bei den Nationalsozialisten wenig beliebt war, vor der drohenden Deportation zu schützen. Erst im Juni 1945 konnte die Familie Drucker wohlbehalten nach Leipzig zurückkehren.
Für die demokratische Erneuerung Deutschlands engagierte sich die junge Frau als Mitarbeiterin im Leipziger Berufsausschuss der Rechtsanwälte und Notare zur Entnazifizierung des Berufsstandes. Durch die Wiedereröffnung der Universität Leipzig wurde ihr im Jahr 1946 der Weg in die Wissenschaft möglich. Als unbezahlte Volontär-Assistentin für historische Hilfswissenschaften am Historischen Institut der Universität Leipzig unter Prof. Helmut Kretzschmar (1893-1965), und ein gutes Jahr später als Lehrbeauftragte für mittelalterliches Latein, wurde sie mit ihren spannenden und kenntnisreichen Lehrveranstaltungen schnell zur geliebten und hoch geschätzten Dozentin.
Die Leitung des kriegsgeschädigten Universitätsarchivs übernahm sie im Jahr 1950. In jener Zeit war es nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine politische Entscheidung, eine Gegnerin des Nationalsozialismus auf diesen Posten zu setzten. Noch dazu dürfte sie eine der ersten Frauen überhaupt gewesen sein, die in jener Zeit eine Leitungsfunktion an einer deutschen Universität übernahmen.
Doch hatte die lebendige junge Frau so ihre Schwierigkeiten mit dem Archivamt. Vielen Professoren an der Universität erschien die Idee geradezu absurd, den jahrhundertealten Besitz ihrer jeweiligen Korporation, die in der Vergangenheit oftmals mehr nebeneinander als miteinander existiert hatten, an einem Ort zu vereinen. So wurden Archivalien eher in Privatwohnungen ausgelagert als an das "Archivfräulein" abgegeben. Das Archivgebäude selbst, zwischen Augusteum und Paulinerkirche errichtet, war nur als Rektoratsarchiv gedacht; es herrschte immer stärkere Raumnot und Renate Drucker musste sich mit kleinen Außenstellen als improvisierten Lagerungsorten behelfen.
Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte verschaffte sich die zierliche Frau Dr. Drucker mit ihrem Elan und ihrem enormen Wissen allerdings jenen Respekt, der das Archiv mit seinen wertvollen mittelalterlichen Dokumentenschatz zu einem ganz besonderen Ort innerhalb der Universität werden ließ.
Die Nachkriegswirren, mit den Beuteakten-Verlusten der wertvollsten Stücke, ihrer Rückgabe in den 1950er-Jahren und schließlich die im Mai 1968 erfolgte Sprengung des neben der Paulinerkirche gelegenen Universitätsarchivs erlegten ihr eine große berufliche Verantwortung auf.
Von der Lehre konnte sie jedoch nicht lassen, die Arbeit mit Studenten war wohl ihr Lebenselixier: 1970 wurde sie zur außerordentlichen Professorin berufen. Obwohl seit 1977 emeritiert, bot sie noch über Jahrzehnte, bis in die 1990er-Jahre Lehrveranstaltungen an.
Nach dem Ende der DDR engagierte sich die Bürgerin Drucker für die politische und geistige Wiederbelebung Sachsens. Als Mitbegründerin und Vorsitzende der Ephraim-Carlebach-Stiftung, die sich der Aufarbeitung des jüdischen Beitrags in der Leipziger Stadtgeschichte widmet, und als Senatorin im Sächsischen Kultursenat des Freistaates Sachsen bemühte sie sich immer wieder um die Förderung der Universität Leipzig. In "Anerkennung ihres besonderen Einsatzes für die Freiheit des Gedankens an der Universität Leipzig" hat sie der akademische Senat im Jahre 1997 mit der erstmals verliehenen Würde einer Ehrenbürgerin bedacht.
Über all die Lebenskrisen hinweg bewahrte sich Renate Drucker eine heitere, freundliche Art, die sich mit großer Intelligenz und einem umfangreichen Wissen paarte. Über ihren Tod hinaus bleibt sie als Mensch und Wissenschaftlerin im korporativen Gedächtnis der Universität Leipzig lebendig.
Werke
- Die Universitätsbauten 1650 bis 1945, in: Leipziger Universitätsbauten. Die Neubauten der Karl-Marx-Universität seit 1945 und die Geschichte der Universitätsgebäude, Leipzig 1961.
- Zur Vorgeschichte des Frauenstudiums an der Universität Leipzig. Aktenbericht, in: Kretzschmar, H. (Herausgeber), Vom Mittelalter zur Neuzeit. Zum 65. Geburtstag von Heinrich Sproemberg, Berlin 1956.
- Zu Thomas Müntzers Leipziger Studentenzeit (mit Bernd Rüdiger), in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Karl-Marx-Universität Leipzig, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe, 23 (1974), Heft 6, Seiten 445-453.
Adressen in Leipzig
- Steinstraße
Erinnerung/ Gedenken/ Würdigung in Leipzig
- 1997 erste Ehrenbürgerin der Universität Leipzig
Zum Weiterlesen/ Literatur/ Quellen
- Renate Drucker 1917-2009. Nekrolog, herausgegeben von Jens Blecher und Howard M. S. Kroch, Leipziger Universitätsverlag, Leipzig 2010.
- Blecher, Jens/ Wiemers, Gerald: Das Universitätsarchiv Leipzig - Vom eisernen Kasten zur Datenschatzkammer, in: Geschichte der Universität Leipzig, Band 4, Leipzig 2009.
Autor: Jens Blecher, 2014