Gerhard, Carolina Similde Amalia (Pseudonym: [Karoline] S. I. Milde) - Leipziger Frauenporträts
Similde Gerhard, um 1895 © Stadtgeschichtliches Museum Leipzig Bilder vergrößert anzeigen
Rubrik
- Literatur
- Soziales
geboren/ gestorben
9. Juli 1830 (Leipzig) - 15. März 1903 (Leipzig)
Zitat
"Ich war ein glückliches Menschenkind." (1903)
Kurzporträt
Als Tochter und Assistentin des begüterten Kaufmanns, Schriftstellers und Kunstmäzens Wilhelm Gerhard pflegte und bewahrte Similde Gerhard dessen künstlerisches und literarisches Erbe sowie den Gerhardschen Garten mit Herrenhaus in Leipzig. Auch als Schriftstellerin sowie durch ihr Engagement in der Verwundeten-, Kranken- und Armenfürsorge errang sie die Anerkennung ihrer Zeitgenoss/-innen.
Herkunftsfamilie
- Vater: Christoph Wilhelm Leonhard Gerhard (1780 Weimar-1858 Heidelberg), Legationsrat von Meiningen, Kaufmann, Schriftsteller, Lieddichter, Übersetzer, Kunstmäzen in Leipzig, Zeremonienmeister der Loge der Minerva Leipzig (Freimaurer) und Freund Goethes
- Mutter: Caroline Friderike Wilhelmine Sophie Gerhard, geborene Richter (1797 Pouch-1879 Leipzig)
- Geschwister:
- Hermine Gerda Lydia (1816-1829)
- Maria Wilhelmine Sopronia (1817-1833)
- Clara Sakontala (1819-1886), heiratete Wilhelm Sesemann (1818-1870, Kaufmann)
- Wilhelm Martin Wolfgang (1820-1896), Buchhändler in Leipzig, heiratete Therese Lantz (1832-1917)
- Paul Bernhard (1824-1906), Kaufmann in Hamburg, später St. Louis, USA, heiratete Mathilde Hühn (1831-1899)
- Johannes Dietrich Adolar (1825-1897), Dr. jur., Rechtsanwalt und Notar in Leipzig, heiratete Clara Moscheles (1836-1884)
Biografie
Similde wuchs als jüngstes von sieben Kindern in einer materiell und kulturell sehr reich ausgestatteten Umgebung auf. Das Gerhardsche Haus und der Garten waren in Leipzig berühmt als "Stätte höchster geistiger Kultur und [...] Treffpunkt hervorragender Persönlichkeiten" (Der Leipziger, 03.10.1908). Vater Gerhard konnte es sich 1834 finanziell leisten, seine kaufmännische Geschäftstätigkeit aufzugeben und sich vollständig eigener literarischer und künstlerischer Kreativität sowie dem Mäzenatentum zu widmen. Tochter Similde bezog er in dieses Schaffen ein und ermöglichte ihr eine umfangreiche naturwissenschaftliche und künstlerische Bildung (unter anderem Botanik, Geologie, Literatur; Französisch, Englisch, Italienisch, Latein, Spanisch) sowie natürlich Musik. Ihre regelrechte Einbeziehung als seine Assistentin bei Forschungsreisen, dem Sammeln von Pflanzen und Mineralien sowie auf den jährlichen Naturforscherversammlungen, die sonst nur von Männern besucht wurden, war außergewöhnlich. In ihrer Kinder- und Jugendzeit lernte sie persönlich Mendelssohn, Schumann, Moscheles, David, Lortzing, Marschner und andere kennen. Später empfing sie als Gastgeberin bekannte Künstler aus Musik-, Literatur-, Theaterkreisen sowie Personen des öffentlichen Lebens wie Franz Liszt, Marie Wilt, Elise Polko, Livia Frege und Maximilian Speck von Sternburg.
Der große Gerhardsche Garten bot Similde Anregung zum Malen, Modellieren und Dichten. Die Parzellierung und der Verkauf eines Teils des Gartens durch ihre Mutter nach dem Tod Wilhelm Gerhards gegen Simildes Widerstand führte um 1864 zur Hinwendung der unverheiratet Bleibenden zur Wohltätigkeitsarbeit und Förderung von sozialen Projekten. Sie trat in den Vorstand der dritten Kinderbewahranstalt und der dazugehörigen Dienstbotenschule (Wiesenstraße 18) ein und kümmerte sich über 25 Jahre als Kassiererin maßgeblich um die Finanzen dieser Einrichtung, spendete Geld, warb Mittel ein.
Im Preußisch-Österreichischen Krieg 1866 und noch umfangreicher im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 war Similde Gerhard die weit über Leipzig und Sachsen und 1871 bis nach Frankreich bekannte Initiatorin von Frauenaktivitäten und praktische Helferin zur Verwundeten- und Krankenfürsorge in den Leipziger Lazaretten. Über dem Gerhardschen Haus wehte die Rote-Kreuz-Flagge. Dort fertigten an die einhundert wohlhabende Frauen Verbandszeug und Wäsche. Im Nachhinein erschien ihr dies trotz der enormen Anstrengungen bei akuter Typhusgefahr eine glückliche Zeit - sie wurde gebraucht, konnte praktische Hilfe leisten. Besonders bemerkenswert war die Unterstützung für die gefangenen Franzosen.
Ab Sommer 1871 widmete sich Similde Gerhard als Gründungs- und Vorstandsmitglied des Leipziger Zweigvereins des Albertvereins (Frauenverein des Sächsischen Roten Kreuzes, genannt nach dem Sächsischen Kronprinz Albert, unter dem Protektorat der Kronprinzessin Carola) der Friedensarbeit des Roten Kreuzes. Armen-, Kranken- und Waisenpflege gehörten zum Aufgabengebiet des Vereins, Rote-Kreuz-Schwestern wurden ausgebildet - die Albertinen. Similde genoss die Aufmerksamkeit der späteren Königin Carola von Sachsen (seit 1873), mit der sie forthin in Kontakt blieb. Für ihren Einsatz um die Leipziger Lazarette erhielt sie den sächsischen Sidonie-Orden. Kaiser Wilhelm I. verlieh ihr das Verdienstkreuz für Frauen und Jungfrauen. Aus Frankreich erhielt sie das Erinnerungskreuz der Hilfsgesellschaft für Verwundete; später kamen die preußische Medaille für "Pflichttreue im Kriege", die Kaiser-Wilhelm-Jubiläums-Medaille, die sächsische Carola-Medaille und die Rote-Kreuz-Medaille hinzu.
Ab Herbst 1871 verstärkte Similde Gerhard ihre schriftstellerische Tätigkeit. Als Literatin ist sie heute wenig bekannt, aber bereits 1869 veröffentlichte sie unter dem Pseudonym S. I. Milde (ihr Vorname war Pate dafür) ein Erziehungsbuch, das bis 1903 zwölf Auflagen erlebte: "Der deutschen Jungfrau Wesen und Wirken. Winke für das geistige und praktische Leben". Darin kommen ihre Vorstellungen von Frömmigkeit, von der Ehe und vom Erwerbsleben der bürgerlichen Frauen bei Ehelosigkeit zum Ausdruck. In der Auflage von 1884 würdigte sie ausdrücklich die Bildungsarbeit von Frauenvereinen wie des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins (ADF), ohne diesen selbst nahe zu stehen.
Similde Gerhard publizierte außerdem die beachtete Anthologie "Die Musik im Lichte der Poesie" und eine Sammlung von Texten zum Mutterglück. Besonders hervorzuheben ist ihre genealogische Arbeit "Stammbaum und Chronik der Familie Gerhard", Leipzig 1881. Diese erschien als Privatdruck in geringer Auflage für Auserwählte, lieferte für das kulturelle Gedächtnis Leipzigs jedoch einen wichtigen Beitrag. Nach dem Tod der Mutter 1879 stritt Similde Gerhard mit ihren Geschwistern gegen deren Verkaufspläne und für den Erhalt von Haus und Garten, wurde schließlich alleinige Eigentümerin derselben und bewahrte diese bis zu ihrem Tod. Die Bewohner mussten zum "Geist des Hauses" passen. Für 1882 sind zum Beispiel der Buchhändler Mahn und seine Frau, die Schriftstellerin Anny Mahn-Wothe als Mieter/-innen nachgewiesen. Im März 1882 holte Similde auch ihre vertraute Freundin Marie Lipsius (Pseudonym: La Mara, 1837-1927) ins Haus, die sich im ersten Stock rechts einmietete. Beide kannten sich seit 1861, die Lazarettarbeit 1866 festigte ihre Freundschaft, sie konnten "einander nicht mehr entbehren" (Marie Lipsius). Sie unternahmen viele gemeinsame Reisen, besuchten oft Italien. Mit einem Liederprogramm (Repertoire circa 70 Lieder, Similde Gerhard Gesang, Marie Lipsius Klavier) traten sie in privaten Kreisen und manchmal sogar in Dorfkirchen für wohltätige Zwecke auf. Simildes heller"leicht beschwingter Sopran" war auch schon vorher zu musikalischen Veranstaltungen bei Livia Frege, Elisabeth Seeburg sowie Hedwig und Franz von Holstein begehrt.
Noch im Alter von fast 70 Jahren begab sich Similde Gerhard allein auf eine längere Orientreise und war begeistert. Als Vermächtnis ihres Bruders Adolar leitete Similde die Umbettung der Gebeine aus dem Gerhardschen Familiengrab vom Alten auf den Neuen Johannisfriedhof. Sie war bei der Exhumierung persönlich anwesend, was nicht ohne Wirkung auf ihre Gesundheit blieb. Neun Monate schwere Krankheit folgten. Rote-Kreuz-Krankenschwestern (Albertinen) des von ihr jahrzehntelang geförderten Albertvereins pflegten sie bis zur ihrem Tode am 15. März 1903. Auf der beeindruckenden Trauerfeier wurde sie von Kondolierenden aus allen Kreisen der Stadt sowie der Universität als "edle Wohltäterin" gewürdigt.
Hinzuzufügen bleibt: Das aus vorindustrieller Zeit stammende prachtvolle Gerhardsche Erbe von Herrenhaus und Garten konnte Similde Gerhard auch als kulturelles Gut für die Stadt Leipzig bewahren und pflegen - bis zu ihrem Tod. Abriss beziehungsweise Einebnung von Haus und Garten ließen sich auch danach nicht ohne weiteres durchsetzen, es gab eine längere Debatte in der Presse um den Erhalt. Im Herbst 1906 verkauften die Erben schließlich an die Stadt Leipzig. Ein Pavillon aus dem Garten Similde Gerhards wurde zwar umgesetzt in den Albertpark (heute Clara-Zetkin-Park, Nähe Sachsenbrücke), das städtebauliche und kulturelle Ensemble Gerhardscher Garten mit Herrenhaus hatte aber aufgehört zu existieren. Es verschwand auch der "Simildes Ruh" genannte Winkel mit Sitzbank bestehend aus Steinen der 1813 gesprengten Elsterbrücke, Brocken aus dem ebenfalls in der Völkerschlacht erstürmten Grimmaischen Tor und Bruchstücken des ersten Poniatowski-Denkmals.
Werke
- Der deutschen Jungfrau Wesen und Wirken, Leipzig 1869 (13 Auflagen bis 1910, 50.000 Exemplare).
- Stammbaum und Chronik der Familie Gerhard, Leipzig 1881 (Privatdruck, geringe Auflage).
- Die Musik im Lichte der Poesie, Leipzig 1884 (Anthologie).
- Unter blühenden Blumen. Gedichte, Leipzig 1886.
- Flor und Blancheflour, Leipzig 1890.
- Schoppe, Amalie und Karoline S. Milde: Briefsteller für Damen. 7. Auflage/ neu bearbeitet und vermittelt durch Briefe berühmter Frauen, Leipzig 1884.
- Mutterglück. Ein Tagebuch über das Wachsen und Gedeihen des Kindes, Leipzig 1897.
Adressen in Leipzig
- 1830-1903: Lessingstraße 4 (Herrenhaus in Gerhards Garten)
Erinnerung/ Gedenken/ Würdigung in Leipzig
- seit 1897 Gerhardstraße in Leipzig-Plagwitz nach Wilhelm Gerhard
- seit 1906 Simildenstraße (frühere Marienstraße) Leipzig-Connewitz
- Im Stadtgeschichtliches Museum Leipzig sind Fotos und Dokumente von und über Similde Gerhard einsehbar (Objektdatenbank).
Zum Weiterlesen/ Literatur/ Quellen
- Brümmer, Franz: Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, Band 2, 6. Auflage, Leipzig 1913 Seite 353 folgende.
- Lexikon deutscher Frauen der Feder, herausgegeben von Sophie Pataky, 1. Band A-L, Berlin 1898, Seite 253 und Band 2, M-Z, Seite 47.
- La Mara (d. i. Marie Lipsius): Durch Musik und Leben im Dienste des Ideals. 2 Bände, Leipzig 1917 (Autobiographie).
- Lipsius, Marie: Similde Gerhard. Ein Gedenkblatt für ihre Freunde, Leipzig, Ostern 1903.
- Stadtarchiv Leipzig: Kapitel 24, Nummer 1, Band 13: Straßen- und Brückenbenennungen, Blatt 8; 15 und 60.
Autor: Dr. phil. Manfred Leyh