Gertrud Giesing - Leipziger Frauenporträts
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Rubrik
- Bildung/ Pädagogik
- Soziales
geboren/ gestorben
24. November 1886 (Leipzig-Eutritzsch) - 12. Januar 1971 (Leipzig)
Zitat
"Im wahren demokratischen Sinne, im Geiste Henriette Goldschmidts weiter zu arbeiten."
Kurzporträt
Gertrud Giesing gehörte zu den noch von der Fröbelpädagogin Henriette Goldschmidt ausgebildeten Kindergärtnerinnen. Von 1918 bis 1962 leitete sie den (Volks)kindergarten in der Weststraße 16 (Henriette-Goldschmidt-Haus) im Sinne seiner Begründerin.
Herkunftsfamilie
- Vater: Paul Giesing (1847-1895), Apotheker
- Mutter: Anna Giesing (1854-1936) geborene Kießel
- Geschwister:
- Halbbruder Fritz (1878-1956, praktischer Arzt in Eutritzsch)
- Karl (geboren 1883, später in den USA)
- Konrad (geboren 1894)
Biografie
Gertrud Giesing wurde am 24. Januar 1886 in Leipzig als Tochter des Apothekers Paul Giesing und seiner Frau Anna geboren. Die ersten Lebensjahre verbrachte Gertrud mit ihren Eltern und den drei Brüdern in Leipzig-Eutritzsch. Die Apotheke des Vaters befand sich im Wohnhaus, das er wenige Jahre zuvor gekauft hatte. Ihr wohlhabendes Elternhaus ermöglichte Gertrud eine gute Schulbildung: zuerst an der 2. Höheren Bürgerschule am Fleischerplatz, später an der 1. Höheren Mädchenschule am Schletterplatz, die sie bis zum Abschluss der 10. Klasse besuchte. Anschließend folgte sie dem für höhere Töchter vorgezeichneten Weg und eignete sich in einem Wiesbadener Pensionat wissenschaftliche sowie wirtschaftliche Kenntnisse an. 1904 kehrte sie zur Mutter zurück (der Vater war 1895 verstorben) und bildete sich in Sprachen, Literatur und Kunstgeschichte weiter, lernte auch Schneidern und Weißnäherei.
1908 begann die 22-Jährige ihre Ausbildung in der Kindergärtnerinnenabteilung des von Henriette Goldschmidt 1878 gegründeten Lyzeums für Damen Weststraße 16 (heute Friedrich-Ebert-Straße), damals auch Sitz des 1871 von Goldschmidt gegründeten Vereins für Familien- und Volkserziehung. Die Kindergärtnerinnenausbildung galt in jener Zeit als "Kulturberuf der Frau" (Henriette Goldschmidt) und bot Frauen die Möglichkeit, sich in der Selbstständigkeit statt in der Familienplanung zu verwirklichen. Gertrud Giesing wurde von der hochbetagten Henriette Goldschmidt in die Fröbelsche Pädagogik eingeführt. Im Oktober 1910 legte sie die Abschlussprüfung zur Kindergärtnerin ab. Als Fröbelpädagogin erwartete sie eine anspruchs- wie entsagungsvolle Berufstätigkeit, die sie hingebungsvoll mehr als 50 Jahre lang ausüben sollte. Sie wurde stellvertretende Leiterin, ab 1918 Leiterin des Volkskindergartens des Vereins, der sich im Erdgeschoss der Weststraße 16 befand. Allein in diesem Jahr wurden hier 60 Vorschulkinder und 20 Erst- und Zweitklässler betreut.
Die Studentinnen der Hochschule für Frauen absolvierten den praktischen Teil ihrer Ausbildung in einem der Übungskindergärten der Hochschule, zu denen auch der von Gertrud Giesing geleitete zählte. Dazu gab es eine enge Zusammenarbeit mit Oberkindergärtnerin Anna Zabel, der von Henriette Goldschmidt eingesetzten Leiterin des Musterkindergartens in der Hochschule für Frauen, die monatlich zu Besprechungen dorthin einlud. Zabel war zuvor selbst Leiterin des Volkskindergartens im Vereinshaus Weststraße 16 gewesen.
Nach dem Tod Henriette Goldschmidts 1920 wurde der Verein für Familien- und Volkserziehung aufgelöst und in die Hinrichsen-Stiftung überführt, die Hochschule für Frauen als Sozialpädagogisches Frauenseminar an die Stadt übergeben. 1921 erhielt das Gebäude Weststraße 16 den Namen Henriette-Goldschmidt-Haus. Gertrud Giesing wurde 1922 in städtische Dienste, 1926 in das Beamtenverhältnis übernommen und ihr Übungskindergarten dem Sozialpädagogischen Frauenseminar angeschlossen. Bis 1938 unterrichtete sie dort das Fach Kinderspiel und -arbeit. In ihrem Kindergarten im Haus Weststraße (ab 1930 Hindenburgstraße, heute förderte sie die Kinder unter anderem mit Bewegungsspiel und musikalischer Bildung.
Während des Nationalsozialismus wurde in der Hochschule die Erinnerung an die jüdischen Begründer Henriette Goldschmidt und Dr. Henri Hinrichsen (1868 Hamburg - 1942 Auschwitz) getilgt. In dieser Zeit, in der die Büste von Henriette Goldschmidt aus der Aula der Hochschule entfernt und das Bildnis Hinrichsens gegen jenes von Adolf Hitler ausgetauscht wurde, durfte auch das Henriette-Goldschmidt-Haus nicht mehr so bezeichnet werden: 1939 schlugen die Nationalsozialisten die Buchstaben des Namensreliefs über dem Eingang ab. Zur Kindergärtnerinnenausbildung wurden nur noch Mitglieder des Bundes Deutscher Mädels (BDM) zugelassen. 1935 waren über 90 Prozent der Schülerinnen im BDM und die Schule wurde dafür als erste in Deutschland mit dem Hissen der Hakenkreuz-Fahne "belohnt". 1937 wurde zusätzlich zum Giesing-Kindergarten ein von der NS-Presse bejubeltes Kleinkindertagesheim im selben Haus eröffnet. Wie sich deren parallele Arbeit praktisch gestaltete, ist nicht überliefert.
Während des II. Weltkrieges war der Kindergarten ein Ort, an dem die Kinder mit Spielen und Singen tagsüber vom Kriegsgeschehen abgelenkt werden sollten. Als im Februar 1945 durch Bombentreffer die oberen Etagen des Hauses ausbrannten, gehörte Giesing zu denen, die das Haus sicherten, so dass der Kindergarten am 2. Mai 1945 wieder geöffnet werden konnte.
Da sie nachweislich nicht der NS-Frauenschaft angehört hatte, konnte Giesing nach dem II. Weltkrieg noch bis 1962 Leiterin des Kindergartens bleiben. Für die nachfolgenden Generationen war sie eine Zeugin für das Wirken Henriette Goldschmidts. Als 1948 auf Initiative von Anna Zabel der Goldschmidt-Geburtstag wieder gefeiert wurde, hielt Giesing eine Gedenkrede mit Schilderungen aus ihrer gemeinsamen Zeit. Und sie nahm die Urkunde entgegen, als das Haus (nun Friedrich-Ebert-Straße 16) zum 132. Goldschmidt-Geburtstag am 23.11.1957 wieder den Namen der Begründerin erhielt. Mit dem Abriss des denkmalgeschützten Henriette-Goldschmidt-Hauses im Jahr 2000 verschwand ein bedeutsames bauliches Zeugnis für das Wirken dieser Frauen.
Werke
- Basteln mit kostenlosem Material, Berlin/ Leipzig 1948.
Adressen in Leipzig
- 1886-1905: Querstraße 20 (Eutritzsch, jetzt Schiebestraße, Haus des Vaters)
- Ab 1905: Bleichertstraße 12 (Gohlis, Wohnung der Mutter)
- 1911-1937: Metzer Straße 2 (Gohlis, jetzt Dietzgenstraße, Hausgemeinschaft mit Mutter und Bruder Konrad)
- Ab 1938: Gohliser Straße 23 (Hausgemeinschaft mit Familie des Bruders Konrad)
- Ab 1949: Riemannstraße 35
Erinnerung/ Gedenken/ Würdigung in Leipzig
Die Geschichte der Henriette-Goldschmidt-Schule, ihrer Begründerin und wichtiger Akteur/-iinnen wie Gertrud Giesing wurde von Annerose Kemp (1936-2013) und Horst Kemp (1932-2015) erforscht. Seit 1991 trugen sie detaillierte Informationen zur Goldschmidt-Schule und den Übungskindergärten zusammen und haben diese zum Teil publiziert. Annerose Kemp war über Jahrzehnte als Studentin, Fachschullehrerin und Studiendirektorin mit der Henriette-Goldschmidt-Schule verbunden. Sie selbst kannte Gertrud Giesing persönlich.
Der Forschungsnachlass von Annerose und Horst Kemp befindet sich im Leibniz-Institut für jüdische Geschichte und Kultur - Simon Dubnow (DI) in Leipzig.
Zum Weiterlesen/ Literatur/ Quellen
- Kemp, Annerose und Horst: Gertrud Giesing. Erzieherin aus Leidenschaft. In: Leipziger Lerchen: Frauen erinnern, 3. Folge, herausgegeben von der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft, Sax-Verlag Beucha, 2002.
- Kemp, Annerose und Horst: Anna Zabel. Kindergärtnerin, Lehrerin und Stadtverordnete. In: Leipziger Lerchen: Frauen erinnern, 1. Folge, herausgegeben von der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft, Sax-Verlag Beucha, 1999.
- Henriette-Goldschmidt-Schule: 1911-1991, herausgegeben von der Henriette-Goldschmidt-Schule, Leipzig 1991.
- Henriette-Goldschmidt-Schule: 1911-2011, herausgegeben von der Henriette-Goldschmidt-Schule, Leipzig 2011.
Autorin: Julia Sophia Sommer, 2018