Heinicke, Anna Catharina Elisabeth (geborene Kludt) - Leipziger Frauenporträts
Anna Catharina Elisabeth Heinicke, Ölporträt von Wilhelm Gottfried Bauer, 1821 © Sächsische Landesschule für Hörgeschädigte Leipzig Bilder vergrößert anzeigen
Rubrik
- Bildung/ Pädagogik
- Wirtschaft
geboren/ gestorben
9. November 1757 (Jüthorn bei Wandsbek) - 6. August 1840 (Leipzig)
Zitat
"Wer nur einigermaßen über die Schwierigkeiten nachgedacht hat, die sich uns bei der Erlernung einer fremden Sprache in den Weg stellen, ob wir gleich unsre 5 Sinne haben, der wird wohl leicht die sich vorstellen können, die der Taubstumme zu überwinden hat."
(A.C.E. Heinecke, 1801)
Kurzporträt
Mit ihrem Mann Samuel Heinicke arbeitete sie an der von ihm 1778 gegründeten ersten Taubstummen-Schule Deutschlands. Nach seinem Tod wurde Anna Catharina Elisabeth Heinicke 1790 zur ersten Direktorin einer deutschen Gehörlosenschule ernannt und leitete diese Einrichtung 38 Jahre lang.
Biografie
Anna Catharina Elisabeth Heinicke geborene Kludt, 1757 in Jüthorn bei Wandsbek geboren, gehört zu den Frauen des 18. Jahrhunderts, die Zugang zur Bildung hatten und diese nutzten, um ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu führen. Ihre beiden taubstummen Brüder wurden von Samuel Heinicke in Sprechen, Lesen und Schreiben unterrichtet. Der Sohn einer Bauernfamilie hatte sich autodidaktisch weitergebildet, an der Universität Jena Philosophie, Mathematik und Naturlehre studiert und ab 1768 als Schulmeister und Kantor in Eppendorf bei Hamburg gearbeitet. Ab 1777 war er ausschließlich als Taubstummenlehrer tätig. Unterrichtsziel war bei ihm nicht das Auswendiglernen, sondern das Begreifen von Inhalten von Wörtern und Texten, wobei er die Gebärdensprache manchmal als notwendiges, aber ungeliebtes Hilfsmittel zuließ.
Anna Catharina Elisabeth Kludt hatte 18-jährig geheiratet, wurde aber schon nach einem Ehejahr 1776 Witwe. Im Jahr zuvor war Samuel Heinickes erste Ehefrau gestorben und hatte ihm vier Kinder zwischen acht und achtzehn Jahren hinterlassen. Im Januar 1778 heirateten der damals fünfzigjährige Witwer Heinicke und die zwanzigjährige Witwe Anna Catharina Elisabeth und zogen im April mit den neun taubstummen Schülern nach Leipzig um. Dort eröffneten sie mit Genehmigung des sächsischen Kurfürsten Friedrich August III. das Churfürstlich-Sächsische Institut für Stumme und andere mit Sprachgebrechen behaftete Personen, das ab 1782 rechtlich der Universität Leipzig unterstellt wurde. Frau Heinicke, durch ihre Brüder an den Umgang mit Taubstummen gewöhnt, war als Pflegemutter für den großen Haushalt verantwortlich und unterwies die Schülerinnen in weiblichen Handarbeiten. Im Jahr des Umzugs 1778 wurde im Dezember Tochter Wilhelmine Rosina geboren, im Mai 1783 die zweite Tochter Amalie Regina und im Juni 1788 der Sohn Samuel Anton. Die Familie verkleinerte sich, als Heinickes älteste Tochter aus erster Ehe und Ernst Adolf Eschke (1766-1811) heirateten. Dieser hatte bei Heinicke ein Praktikum in Gehörlosenbildung absolviert und 1788 das erste preußische Taubstummeninstitut in Berlin gegründet.
Nach zwölf Jahren Arbeit im Institut starb Samuel Heinicke 1790 mit nur 63 Jahren. Anna Catharina Elisabeth blieb zweiunddreißigjährig als unversorgte Witwe mit den Kindern zurück. Heinickes vorsorglich schon 1782 an den Kurfürsten gerichtetes Gesuch, seiner Frau nach seinem Tod ein Witwengehalt von 200 Talern zu gewähren, war damals abgelehnt worden. Nun ergriff Frau Heinicke die Initiative, teilte in Zeitungsanzeigen mit, dass der Unterricht auch nach dem Tod ihres Mannes fortgesetzt werde und übernahm die Leitung der Schule mit damals vier Schülern. Selbstbewusst bewarb sie sich in mehreren Schreiben beim Kurfürsten um die Direktion, da sie durch ihren Mann Grundzüge im Unterrichten Taubstummer erworben hatte, um selbst ihren Lebensunterhalt verdienen zu können. Sie bat ferner darum, den Hilfslehrer August Friedrich Petschke (1759-1822) aus Gründen der Disziplin und Sicherheit ebenfalls weiter zu beschäftigen. Auch der Hilfslehrer Petschke und ihr Schwiegersohn Ernst Adolf Eschke aus Berlin bewarben sich um die Leitung des Instituts. Zunächst ließ der Kurfürst das Jahresgehalt Heinickes von 400 Talern weiter an die Witwe zahlen; im Oktober 1790 übertrug er Anna Catharina Elisabeth Heinicke und Hilfslehrer Petschke die gemeinsame Leitung des Instituts. Nachdem die Witwe Heinicke einen Heiratsantrag Petschkes abgelehnt hatte, kam es zu Problemen in der Zusammenarbeit und sie wurde 1792 per kurfürstlichem Dekret zur alleinigen Leiterin des Instituts, Petschke zum ersten Lehrer ernannt.
Als Direktorin war Anna Catharina Elisabeth Heinicke für pädagogische Fragen zuständig und trug zudem die wirtschaftliche, finanztechnische und personelle Verantwortung. Sie leitete das Institut nach den Prinzipien ihres Mannes, sorgte sich aber auch um die Weiterentwicklung des Lehrbetriebs. So schlug sie vor, geistig schwache, nicht-taubstumme Schüler auszuschulen und die Schulzeit der taubstummen Schülerinnen und Schüler zu verlängern, um bei ihnen das Gelernte weiter zu festigen. 1810 wurde ein Antrag der Schule bewilligt, der Taubstummen den Weg in die eigene Berufstätigkeit erleichtern sollte: Lehrmeister, die einen Taubstummen als Lehrling aufnahmen, erhielten eine einmalige Prämie von 50 Talern. Umsicht und Mut bewies Direktorin Heinicke 1813 in den Wirren der Völkerschlacht, als sie für die nunmehr 24 Zöglinge im Zentrum der Stadt ein sicheres Quartier suchen musste. 1815/16 beantragte sie die Einführung von Aufnahmeprüfungen, um "Verstandes- und Unterrichtsfähigkeit" künftiger Schüler festzustellen und empfahl Untersuchungskriterien dafür. 1818 wurde am Institut eine Sonntagsschule eingerichtet, die Weiterbildung und gesellige Zusammenkünfte auch für erwachsene Gehörlose anbot.
Mit dem Legat der Witwe Luise Carl (1762-1815) von 1815, die dem Taubstummen-Institut 40.000 Taler vermachte, verbesserte sich die Situation wesentlich. Seit der Gründung 1778 war die Schule in angemieteten Wohnungen untergebracht gewesen und hatte wegen der wachsenden Schülerzahl fünfmal umziehen müssen. Dank der Carl'schen Stiftung konnte Frau Heinicke 1821 das erste eigene Gebäude in der Klitzschergasse 806, Nähe Pleißenburg erwerben, das nach Umbauten 1822 als Leipziger Taubstummenanstalt eröffnet wurde. Dieser sechste Umzug unter ihrer Regie wird sicher der freudigste gewesen sein. Im Folgejahr lernten hier bereits 38 Schülerinnen und Schüler. 1824 stiftete Anna Catharina Elisabeth Heinicke "Dem Andenken der Wohltäterin der Taubstummen-Bildungsanstalt Frau Caroline Luise verwitwete D. Carl, geborene Kuestner" ein Denkmal, das heute noch existiert und neben der Samuel-Heinicke-Schule steht.
1828 beging die Leipziger Taubstummenanstalt ihr 50. Gründungsjahr und Anna Catharina Elisabeth ihr fünfzigjähriges Dienstjubiläum. In einer Feierstunde wurden ihre Leistungen gewürdigt und ihr in Anerkennung ihrer Verdienste ein Brillantring des Königs überreicht. Seit 1778 hatte sie gemeinsam mit ihrem Mann am Institut gearbeitet und es nach seinem Tod über 38 Jahre als verantwortliche Direktorin geführt. Nun im 71. Lebensjahr beantragte sie für sich eine Pension von 400 Talern jährlich und empfahl als ihren Nachfolger den Lehrer Carl Gottlob Reich (1782-1852), der seit 1810 am Institut angestellt und seit 1816 mit ihrer Tochter Amalie Regina verheiratet war. Am 1. Januar 1829 wurde sie mit einem "Gnadengehalt" von immerhin 300 Talern pensioniert und blieb bis zu ihrem Tod im Gebäude wohnen. Im September 1839 erlebte sie noch die Grundsteinlegung für den ersten städtischen Neubau des Taubstummen-Instituts vor dem Windmühlentor. Dreiundachtzigjährig starb sie am 6. August 1840 in Leipzig.
Der von Carl Gottlob Reich verfasste Nachruf im "Leipziger Tageblatt" vom 8. August 1840 betont ganz im Stil der Zeit, dass die "Gattin des Stifters" und "Vorsteherin dieser Anstalt [...] fünfzig Jahre hindurch die Pflichten ihres Berufs mit mütterlicher Treue geübt" hat. Anna Catharina Elisabeth Heinicke veröffentlichte keine pädagogischen Schriften wie ihr Mann, aber aus ihrem praktischen Wirken und den nachgelassenen Briefen wird außer "mütterlicher Treue" auch ihre besondere Eignung für die Gehörlosenpädagogik deutlich. Ihre Tätigkeit als Direktorin des staatlich geförderten Taubstummeninstituts war von der verantwortlichen Universitätsbehörde nie in Frage gestellt worden, was ebenfalls für die fachliche Kompetenz von Anna Catharina Elisabeth Heinicke spricht.
Seit 1915 befindet sich die Samuel-Heinicke-Schule, heute Sächsische Landesschule für Hörgeschädigte Leipzig, in der Karl-Siegismund-Straße 2, 04317 Leipzig - in einem Gebäude, das als Königliche Taubstummenanstalt zu Leipzig konzipiert und gebaut worden war.
Adressen in Leipzig
- 1778: Wohnung am Roßplatz
- 1782: Wohnung in der Klostergasse
- 1785: Wohnung am Neuen Kirchhof an der Matthäi-Kirche
- 1791: Wohnung in der Neuen Straße vor dem Halleschen Pförtchen
- 1814: Wohnung am Thomaspförtchen
- 1821: erstes eigenes Gebäude in der Klitzschergasse 806, Nähe Pleißenburg
- 1840: erster städtischer Neubau des Taubstummen-Institut vor dem Windmühlentor (heute Standort Augenklinik Liebigstraße)
Erinnerung/ Gedenken/ Würdigung in Leipzig
- Ölporträt der Anna Catharina Elisabeth Heinicke, gemalt 1821 von Wilhelm Gottfried Bauer, in der ständigen Ausstellung der Sächsischen Landesschule für Hörgeschädigte Leipzig
- persönliche Briefe in der Handschriftensammlung der Sächsischen Landesschule für Hörgeschädigte Leipzig
- Gedenkausstellung zu ihrem 250. Geburtstag im Jahr 2007 in der Sächsischen Landesschule für Hörgeschädigte Leipzig
Zum Weiterlesen/ Literatur/ Quellen
- Joachim Winkler, Anna Catharina Elisabeth Heinicke (1757-1840). Erste Direktorin einer deutschen Gehörlosenschule, in: Blick zurück. Ein Reader zur Geschichte von Gehörlosengemeinschaften und ihren Gebärdensprachen, herausgegeben von Renate Fischer und Harlan Lane. Aus dem Englischen übersetzt von Trixi Flügel, Katharina Kutzmann und Eva Richter, Hamburg 1993, International studies on sign language and the communication of the deaf; Band 24.
Autorin: Gerlinde Kämmerer, 2013