Herrmann, Elsa (verheiratet Pick, tschechisch Picková) - Leipziger Frauenporträts
- © Národní archiv, Policejní ředitelství II, Praha – všeobecná spisovna 1931-40, Karton No. 9637, Sign. P 1695/10 Elsa Pick Bilder vergrößert anzeigen
Rubrik
- Frauenbewegung
- Soziales
- Verfolgte/ Opfer des NS
geboren/ gestorben
9. Januar 1893 in Plauen - 23. März 1957 in München
Zitat
"Es gibt im Leben der Menschen keine absolute Gegenwart. Denn stets bilden die Erfahrungen und Erkenntnisse der Vergangenheit den Urgrund alles Formens und alles Geschehens."
(Elsa Herrmann: Auftakt, in: So ist die neue Frau, Hellerau 1929)
Kurzporträt
Elsa Herrmann war die erste jüdische Frau, die 1920 an der Juristischen Fakultät der Universität Leipzig promovierte. Mit ihrem Buch "So ist die neue Frau" (1929) leistete sie einen Beitrag zur feministischen Debatte um das Idealbild der eigenständigen Frau, der auch Gedanken zu einer neuen Form der partnerschaftlichen Beziehung enthielt.
Herkunftsfamilie
- Vater: Max Herrmann (1860-1919), Fabrikant
- Mutter: Emilie, geborene Adler (Geburtsjahr unbekannt; aus dem sogenannten Ghettohaus in Plauen am 8. September 1942 nach Theresienstadt und weiter nach Treblinka deportiert, verschollen)
- Bruder: Adolf Kurt Herrmann (1895-1992, führte bis 1938 die väterliche Fabrik weiter, Emigration nach Bolivien, nach Kriegsende Rückkehr nach Deutschland mit Wohnsitz in München)
- Schwester: Gertrud Alice Herrmann (1896-1942, deportiert und verschollen)
Biografie
Vorbemerkung:
Über Elsa Herrmann sind weder Selbstzeugnisse noch Fremdaussagen bekannt und so kann sich dieser bemerkenswerten Frau nur über verbürgte Lebensstationen und ihre Beiträge in verschiede-nen Pressemedien, vor allem aber über ihr 1929 erschienenes Buch "So ist die neue Frau" genähert werden, das bis heute in der Forschung rezipiert wird. Pioniergeist bewies sie in mehrfacher Hin-sicht und lebte selbst, den Zeitumständen zum Trotz, das Leben einer "neuen" Frau.
Elsa Herrmann entstammte einer begüterten jüdischen Textilfabrikantenfamilie und kam am 9. Januar 1893 in Plauen zur Welt. Für einen höheren Schulabschluss wechselte das junge Mädchen spätestens 1908 nach Leipzig, wo Verwandte der Mutter lebten. Sie besuchte die von Hugo Gaudig (1860-1923) geführte Höhere Schule für Mädchen und absolvierte eine Lehrerinnenausbildung.
Im April 1912 wurde die frischgebackene Pädagogin Mitglied des Kollegiums der gerade von dem Rabbiner Ephraim Carlebach (1879-1936) gegründeten Höheren Israelitischen Schule zu Leipzig. Sie unterrichtete in den unteren Mädchenklassen Deutsch und Anschauung. Schon 1913 verließ sie die Schule, um in Berlin am Herder-Realgymnasium für Jungen extern das Abitur abzulegen. 1916 immatrikulierte sie sich an der Friedrich-Wilhelms-Universität (später Humboldt-Universität) zunächst im Fach Philosophie, um ein Jahr später zur Jurisprudenz zu wechseln. Obwohl berufliche Perspektiven für Frauen in diesem Metier nicht gegeben waren, entschieden sich einige, zu denen auch Elsa Herrmann gehörte, bewusst dafür, die erworbenen Kenntnisse für die Durchsetzung von sozialen- und Frauenrechten zu nutzen. Nach einer Zwischenstation in Marburg setzte sie ihr Studium an der Universität Leipzig fort und belegte Vorlesungen zur Nationalökonomie sowie zum Kirchen-, Ehe-, Strafprozess- und Konkursrecht. Am 17. Januar 1920 promovierte Elsa Herrmann mit "cum laude" zum Thema "Die Trennung von Kirche und Staat im Frankfurter Parlament". Die gewählte Thematik erwies sich als hochaktuell, war doch die Frage der Stellung von Kirche und Staat, von Glaubens- und Gewissenfreiheit Gegenstand vieler Debatten um die Verfassung der Weimarer Republik 1919.
Nach dem Studium engagierte sich Elsa im 1920 gegründeten "Deutschen Zentralausschuß für die Auslandshilfe" in Berlin. Die durch den I. Weltkrieg verursachte große Not in Deutschland regte weite Kreise des Auslands zu umfassenden Hilfsaktionen an, die vom "Zentralausschuß" deutschlandweit koordiniert wurden. Am 9. Juli 1920 wandte sie sich in einem Brief an Albert Einstein (1879-1955), in dem sie darauf hinwies, dass allein von den amerikanischen Quäkern bis dato 632.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland gespeist wurden und bat den bekannten Physiker um eine (umgehend gewährte) Würdigung dieser solidarischen Aktion.
1929 trat Elsa Herrmann mit einer kleinen fulminanten Schrift "So ist die neue Frau" an die Öffentlichkeit. In 12 Kapiteln zeichnete sie die Entwicklungslinie von der "Frau der Tradition" zur "Frau von Heute" mit neuem Habitus und Lebensstil nach, forderte das Recht der Frau auf freie Verfügung ihres Leibes, die Neufassung des gesetzlichen Eherechtes, die kameradschaftliche Gleichberechtigung von Mann und Frau in Ehe und Beruf und faire Entlohnung. Selbstverständlich sollte sich eine Frau nicht aushalten lassen und dem Mann die gleichen Gefälligkeiten erweisen, die sie umgekehrt erwartet.
In den zwanziger Jahren kamen die ersten von der Frauenbewegung initiierten (Sexual-)Beratungsstellen von Frauen für Frauen auf. Eine solche leitete Dr. Elsa Herrmann in Berlin Kreuzberg. In anonymer Form konnten sich Frauen zu geschlechtlichen Fragen informieren und Auskünfte zum Ehe- und Frauenrecht einholen. Doch schon bald sollte das anvisierte moderne Frauenbild einem weitaus konservativeren der neuen Machthaber weichen.
Die Zeichen des aufkommenden Nationalsozialismus richtig deutend, entschloss sich Herrmann frühzeitig zur Emigration nach Teplitz-Schönau (Tschechien). Der Ort mit Böhmens größter Synagoge war Sitz zahlreicher sudetendeutscher Organisationen. Inwieweit die Eheschließung mit dem 15 Jahre jüngeren Bankrevisor Bedřich Goder pragmatischen Überlegungen folgte und wie sie wieder gelöst wurde, bleibt offen. Am 17. Februar 1934 zog Herrmann jedenfalls nach Prag und heiratete drei Monate später den dort beheimateten Karel Pick (1880-1950). Zu dieser Zeit hatte sie bereits Kontakt zu dem von Wilhelmine Wiechowski (1834-1925) im Jahr 1893 gegründeten "Deutschen Verein Frauenfortschritt e. V. in Prag", für den sie Vorträge zur aktuellen Frauenproblematik hielt.
Am 15. März 1939 besetzte die Wehrmacht Prag und das Ehepaar Pick floh nach England. Aus Birmingham meldete sich Elsa mit Beiträgen in Zeitschriften der Exilpresse zu Wort. Ihr Artikel "Rettungsmaßnahmen für Juden" im "Zeitspiegel" vom Januar 1943 zeigt das Engagement der selbst betroffenen Autorin, die überdies um das ungewisse Schicksal von Mutter und Schwester bangte. Fast wie aus der Zeit gefallen wirkt daneben eine kleine Hommage an einen bekannten Ort der Schokoladenherstellung, die den Titel "Frühling in Bournville" trägt. Das liebenswerte Modell-Dorf bot zahlreichen Flüchtlingen Zuflucht.
Nach dem Krieg erwog das Ehepaar Pick eine Auswanderung in die USA. Doch der Tod ihres Mannes veranlasste Elsa 1952 zu einer Rückkehr nach Berlin, wo sie als Dozentin wirkte und noch einmal als kenntnisreiche Autorin mit einem Artikel über die Arbeit internationaler Organisationen in Erscheinung trat.
Elsa Pick starb am 23. März 1957 während eines Besuchs bei ihrem Bruder in München.
Werke
Promotionsschrift
- Die Trennung von Kirche und Staat im Frankfurter Parlament, Promotionsschrift, an der Universität Leipzig eingereicht am 23. Juli 1919, 98 Seiten Maschinenskript, Universitätsbibliothek Leipzig. (Anmerkung der Autorin: Im Doktorbuch der Leipziger Universität findet sich kein entsprechender Eintrag einer Depromotion, wie sie einige jüdische Akademiker/-innen nach 1933 betraf.)
Bücher
- So ist die neue Frau, Hellerau 1929.
- Kartei und Archiv, Hamburg 1931; 2. Auflage 1933. (Anmerkung der Autorin: Urheberschaft wahrscheinlich, aber nicht zweifelsfrei erwiesen.)
Beiträge in Zeitschriften
- Frühling in Bournville, in: The European Press, Heft 4, London 1940, Seite 7. (Anmerkung der Autorin: Bournville ist eng mit dem vorbildlichen sozialen Wirken der Schokoladenfabrikanten und Quäkerfamilie Cadbury verbunden und gilt noch heute als einer der schönsten Lebensorte in Großbritannien.)
- Nachruf auf Maria Schmolka, in: The European Press, Heft 5, London 1940, Seite 3.
- Antworten Elsa Herrmanns auf Anfragen von Leserinnen: "Mein Kind lügt", beziehungsweise "Soll ich arbeiten?", in: Frau in Arbeit, Periodical of the Working Refugee Women, Heft 17, London 1941.
- Rettungsmaßnahmen für Juden, in: Zeitspiegel, Austria Centre (Association of Austrians in Great Britain, Nummer 1 vom 2. Januar, London 1943, Seite 8.
- Wie können internationale Organisationen soziale Probleme lösen?, in: Soziale Arbeit, Zeitschrift für soziale und sozialverwandte Gebiete, Heft 8, Berlin 1955, Seite 377-383.
Vorträge für den "Deutschen Verein Frauenfortschritt" Prag
- 1933: "Probleme der Frau von heute. Haus und Beruf"
- 1934: "Die Frau in der wirtschaftlichen Krise"
- 1936: "Unsere Beratungsstelle, wie sie hilft und helfen will"
- 1936: "Frau und Zeitung"
Adressen in Leipzig
- 1912-1913: Kanalstraße 2
- September 1918: Dresdner Straße 30 III
- ab Oktober 1918: Czermaks Garten 6 III
- bis April 1919: Humboldtstraße 11 II
- ab Mai 1919: Kaiser-Wilhelm-Straße 34 (bei Adele Baumann; heute August-Bebel- Straße)
- ab Oktober 1919: König-Johann-Straße 13 II (heute Tschaikowskistraße)
- ab November 1919: Gustav-Adolf-Straße 21 III (bei Ada Voigt)
(Es handelt sich bei allen Wohnungsangaben um Untermietsverhältnisse.)
Zum Weiterlesen/ Literatur/ Quellen
- Jürgen Nitsche, Dr. Elsa Herrmann, eine streitbare jüdische Frauenrechtlerin, und ihr Buch "So ist die neue Frau". Nicht nur ein Exkurs zu ihrem Weiblichkeitsentwurf in den späten 1920er Jahren, in: Caris-Petra Heidel (Herausgeberin), Jüdinnen und Psyche. Schriftenreihe Medizin und Judentum, Band 13, Frankfurt am Main 2016 (Seite 77-108).
- Karin Gröning, Entwicklungslinien pädagogischer Beratung. Zur Geschichte der Erziehungs-, Berufs- und Sexualberatung in Deutschland, Gießen 2015.
- Hubert Lang, Zwischen allen Stühlen. Juristen jüdischer Herkunft in Leipzig (1848-1953), Leipzig 2014.
- Steffen Held, Jurastudentinnen und Juristinnen in Leipzig in der ersten Hälfe des 20. Jahrhundert, in: Ilse Nagelschmidt (Herausgeberin): 100 Jahre Frauenstudium an der Alma Mater Lipsiensis. Reden und Vorträge zur Konferenz am 9. Mai 2006 an der Universität, Leipzig 2007 (Seitenangabe).
- Thomas Henne, Die Aberkennung von Doktorgraden an der Juristenfakultät Leipzig 1933-1945, Leipzig 2007.
- Barbara Kowalzik, Lehrerbuch. Die Lehrer und Lehrerinnen des Leipziger jüdischen Schulwerks 1912-1942, vorgestellt in Biogrammen, Leipziger Kalender, Sonderband 2006/1, herausgegeben von der Stadt Leipzig, Der Oberbürgermeister, Stadtarchiv, Leipzig 2006.
- Elke Reinhardt-Becker, Seelenbund oder Partnerschaft? Liebessemantiken in der Literatur der Romantik und der Neuen Sachlichkeit, Frankfurt am Main 2005.
- Julia Bertschik, Mode und Moderne. Kleidung als Spiegel des Zeitgeistes in der deutsch-sprachigen Literatur (1770-1945), Köln 2005.
- Jens Blecher, Akademische Graduierungen und deren nachträglicher Entzug an der Universität Leipzig zwischen 1900 und 1935, in: Figuren und Strukturen. Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag, München 2002 (Seitenangabe).
- From German Central Committee for Foreign Relief, 9.7.1920., in: The Collected Papers of Alberts Einstein. Volume 7, The Berlin Years, Writings 1918-1921, Princeton 2002, Seite 335.
- Barbara Kowalzik, Das jüdische Schulwerk in Leipzig 1912-1933, Köln/ Weimar/ Wien 2002.
- Kerstin Barndt, "Engel oder Megäre". Figurationen einer "Neuen Frau" bei Marieluise Fleißer und Irmgard Keun, in: Reflexive Naivität. Zum Werk Marieluise Fleißers, Berlin 2000
- Barbara Kowalzik, Wir waren Eure Nachbarn, Leipzig 1996.
- Helmut Eschwege, Geschichte der Juden im Territorium der ehemaligen DDR, Band 2, Dresden 1992.
- Marieluise Fleißer, Eine Zierde für den Verein. Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen, 1931 erschienen unter dem Namen "Mehlreisende Frieda Geier", überarbeitet 1972, Frankfurt am Main 1984. (Anmerkung der Autorin: Die Literaturwissenschaftlerin Julia Bertschik führt an, dass die Schriftstellerin Marieluise Fleißer eine ihrer bekanntesten Romanfiguren nach Herrmanns Frauenbild konzipierte.)
- Lieselotte Maas und Eberhard Lämmert, Handbuch der deutschen Exilpresse 1933-1945, Band 1: Bibliographie A-K, München und Wien, 1976.
- Der Deutsche Zentralausschuß für die Auslandshilfe: Sein Zweck, seine Aufgaben, sein Ziel, Berlin 1923.
- Zweiter, dritter und vierter Bericht über die II. Höhere Schule für Mädchen nebst Lehrerinnenseminar zu Leipzig, Ostern 1908 bis Ostern 1911, Leipzig 1909-1911.
- https://einsteinpapers.press.princeton.edu/vol7-doc/380 (Stand: 15.11.2019).
- Deutsche Geschichte in Dokumenten und Bildern, Band 6, Projekt des Deutschen Historischen Instituts Washington 2003-2013: http://germanhistorydocs.ghi-dc.org/pdf/deu/SEX_HERRMANN_DEU.pdf. (Stand: 15.11.2019).
- Informationen zum "Deutschen Verein für Frauenfortschritt": http://www.fraueninbewegung.onb.ac.at/Pages/OrganisationenDetail.aspx?p_iOrganisationID=12235841 (Stand: 15.11.2019).
- Zum Topos der "Neuen Frau": https://www.zeitklicks.de/weimarer-republik/zeitklicks/zeit/26/4/die-neue-frau/; https://www.dhm.de/lemo/kapitel/weimarer-republik/alltagsleben/die-neue-frau.html; https://de.wikipedia.org/wiki/Neue_Frau_(Feminismus). (Stand: 15.11.2019).
- Zur international wirkenden Organisatorin jüdischer Flüchtlingshilfe Marie Schmolka: https://www.biographien.ac.at/oebl/oebl_S/Schmolka_Marie_1890_1940.xml (Stand: 15.11.2019).
- Zur Geschichte des Verlags Avalun, Hellerau: http://verlagsgeschichte.murrayhall.com/?page_id=194 (Stand: 15.11.2019).
- Zur Geschichte der Schokoladenfabrik Cadbury und Bournvilles: https://www.cadbury.co.uk/our-story. (Stand: 15.11.2019).
- Universitätsarchiv Leipzig: UAL, Quaestur, Sign. 132772; Doktorbuch, Band 3, Signatur Juristische Fakultät 01/02, Band 3.
Autorin: Kerstin Kollecker, 2019