Herrmann, Gertrud Alice - Leipziger Frauenporträts
Gertrud Herrmann, um 1930 © Schulmuseum Leipzig - Werkstatt für Schulgeschichte Bilder vergrößert anzeigen
Rubrik
- Bildung/ Pädagogik
- Verfolgte/ Opfer des NS
geboren/ gestorben
15. Juni 1896 (Plauen) - 13. Juli 1942 deportiert und verschollen
Zitat
"So ist mir nur der allgemeine Umriss der Persönlichkeit Gertrud Herrmanns geblieben: der einer klugen, willensstarken, warmherzigen Frau [...]. Ihr ganzes Interesse, ihre Zuneigung, ihre Anstrengung galt dem Wohl 'ihrer Kinder'."
(Aus einem am 21.04.1989 geschriebenen Erinnerungsbericht von Rosemarie Sacke, geboren Gaudig, die
mit Gertrud Herrmann als Mentorin im Schuljahr 1931/1932 ihr pädagogisches Probejahr absolvierte.)
Kurzporträt
Gertrud Herrmann, engagierte und sowohl methodisch als auch wissenschaftlich anerkannte Lehrerin an der Reformschule von Hugo Gaudig und an der jüdischen Carlebachschule in Leipzig erhielt 1929 für ihre pädagogischen Verdienste als erste jüdische Frau in Sachsen den Titel "Studienrätin" verliehen. Mit den ihr anvertrauten Kindern des jüdischen Kinderheims wurde sie am 13. Juli 1942 Richtung Osten deportiert. Ihr Schicksal verliert sich im Dunkeln.
Herkunftsfamilie
- Vater: Max Herrmann (1860-1919), Fabrikant
- Mutter: Emilie, geboren Adler (Geburtsjahr unbekannt, deportiert am 8. September 1942 nach Theresienstadt und weiter nach Treblinka; verschollen)
- Schwester: Elsa, verheiratet Pick, (1893-?), Lehrerin, Dr. jur. und Autorin des Buches "So ist die neue Frau", Hellerau 1929, emigrierte nach Tschechien
- Bruder: Adolf Kurt (1895-1992), führte bis 1938 die väterliche Fabrik weiter, emigrierte nach Bolivien. Beide Geschwister lebten später in München.
Biografie
Gertrud Alice Herrmann wurde am 15. Juni 1896 als Tochter jüdischer Eltern mit deutscher Staatsangehörigkeit in Plauen geboren. Vater Max führte gemeinsam mit seinem Bruder Philipp sehr erfolgreich eine Spitzenfabrik und so wuchsen die drei Geschwister in einer gutsituierten Familie auf, die, unabhängig vom Geschlecht ihrer Kinder, Wert auf eine gediegene Ausbildung legte. Sorglos indes war das Leben der Herrmanns nicht, gab es gerade in Plauen heftige antisemitische Tendenzen, die bereits 1914 in einem Pogrom ausarteten.
Vor diesem Hintergrund besuchte Gertrud das Realgymnasium in Plauen, welches sie mit dem Prädikat "vorzüglich" abschloss. Am 26.10.1916 schrieb sie sich an der Universität in Leipzig, der Geburtsstadt ihres Vaters, zum Studium der Germanistik ein und belegte entsprechend ihres regen geisteswissenschaftlichen Interesses ein breites Spektrum von Fächern.
1922 wurde Gertrud Herrmann Studienassessorin an der 2. Städtischen Höheren Mädchenschule, die, 1927 nach dem langjährigen Direktor Hugo Gaudig benannt, für ihren reformpädagogischen Ansatz überregional bekannt war. Bald schon wurden der jungen Lehrerin, die Deutsch, Geschichte, Latein und Stenographie unterrichtete, ein "natürliches Lehrgeschick, von einem lebhaften pädagogischen Interesse geführt" bescheinigt. Gerühmt wurden "Hermines" (so ihr liebevoll gemeinter Spitzname) gut vorbereitete Wandertage, ihre Erziehung zu Achtsamkeit, Redlichkeit und Kameradschaftlichkeit. Noch im Frühjahr 1933 war sie für die Übernahme des neu eingeführten "Kulturfachs" vorgesehen, in dem die "Welt der Werte" im Mittelpunkt stehen und dessen erklärtes Ziel der "bereicherte und vertiefte Mensch" sein sollte. Dieser Herausforderung konnte sie sich nicht mehr stellen. Trotz aller Wertschätzung musste sie im Sommer 1933 auf Grund ihrer jüdischen Herkunft die Schule verlassen und war gezwungen, bei dem Bruder in Plauen zu leben.
1934 ergab sich für Gertrud Herrmann die Möglichkeit, an der Israelitischen Höheren Schule in Leipzig zu unterrichten, die 1912 von dem Rabbiner Dr. Ephraim Carlebach gegründet wurde. Als jüdische Kinder zunehmend aus anderen Bildungseinrichtungen gedrängt wurden, sollte diese orthodox ausgerichtete Schule ein Ort der Geborgenheit inmitten alltäglicher und ständig wachsender Diskriminierung werden. Die nicht religiös gebundene Gertrud Herrmann setzte sich auch hier mit gewohnter Leidenschaft für die Schüler/-innen ein.
Privat wurde das Leben für Gertrud Herrmann immer schwieriger. Wer von ihren jüdischen Kollegen die Möglichkeit hatte, emigrierte oder wanderte nach Palästina aus. Von finanziellen Nöten geplagt, musste sie mehrfach umziehen und zunehmend Möbel und Bücher verkaufen. Seelische Stütze gaben einige Freundschaften, darunter die zu Hedwig Burgheim. Beide Frauen engagierten sich als erste beziehungsweise zweite Vorsitzende im "Israelitischen Kindergarten" e. V., der am 4. Dezember 1939 zwangsweise aufgelöst werden musste.
Zuvor schon, in der Pogromnacht am 9. November 1938, war die Carlebachschule verwüstet worden. Ab 1940 schließlich zum "Judenhaus" erklärt, fand der Unterricht nur noch sehr eingeschränkt statt. Gertrud Herrmann versuchte auch in dieser Situation, die Isolation und Angst der Bewohner/-innen und Schüler/-innen mit literarischen Abendveranstaltungen zu mildern. Ständig minimierte sich die Zahl der Kinder und Lehrkräfte. Nach den ersten beiden Deportationen am 21. Januar und 10. Mai 1942 waren es noch 61 Schüler/-innen, die von den beiden letzten verbliebenen Lehrern, neben Herrmann war das der einstige Sportlehrer und letzte Schuldirektor, Daniel David Katzmann, unterrichtet wurden. Beide bewiesen große Seelenstärke, versuchten sie doch trotz eigener beklemmender Ahnungen den Kindern einen Hauch von Normalität und Stabilität zu erhalten.
Am 30. Juni 1942 befahl ein Geheimerlass die Schließung aller jüdischen Schulen in Deutschland. Für die letzten verbliebenen Kinder veranstalteten Katzmann und Herrmann eine kleine Feierstunde. Leise wurde zum Abschied die Melodie "Die Gedanken sind frei" gesummt.
Gertrud Herrmann wurde mit dem dritten Leipziger Deportationszug vom 13. Juli 1942, der 170 Menschen, überwiegend Frauen und Kinder, umfasste, als "Nummer 181 - 52" mit unbekanntem Ziel Richtung Osten transportiert. Bei ihr befanden sich 19 Kinder aus dem jüdischen Kinderheim, die sie gleichfalls bis zuletzt betreut hatte. Ihre ehemalige Schülerin an der Gaudigschule, Lieselotte Siemon, erhielt von "Hermine" noch eine Postkarte: "Ich verreise mit allen meinen Kindern und möchte Ihnen und Ihren Eltern Adieu sagen."
Die Pädagogin Gertrud Herrmann gehörte zu den Menschen, die, selbst massiv bedroht und gefährdet, ihre ganze, zutiefst humanistisch geprägte und gesinnte Persönlichkeit einsetzten, um auch in Zeiten von latentem Hass und schließlich äußerster Gewalttätigkeit und Brutalität Zeichen von Solidarität, Hingabe und Wärme, aber auch von seelischem und geistigem Widerstehen zu setzen.
Ihre überlebenden Schülerinnen von einst dankten ihr 1994 mit der Eintragung ihres Namens in der Märtyrergedenkstätte Yad Vashem und dem Bewahren ihres Andenkens.
Adressen in Leipzig
- 1923 - circa 1933: Funkenburgstraße 26 zur Untermiete bei einer Nichtjüdin
- 1937: Sedanstraße 28 (heute Feuerbachstraße), anschließend Wilhelmstraße 54
- 1939/1940: Humboldtstraße 21 ("Judenhaus")
- bis zum 13.07.1942: Jacobstraße 7 ("Judenhaus")
- Am 30. April 1939 war mit dem "Gesetz über die Mietverhältnisse mit Juden" die Unterbringung derselben in sogenannte Judenhäuser eingeleitet worden, eine vorbereitende Maßnahme für die geplanten Deportationen.
Erinnerung/ Gedenken/ Würdigung in Leipzig
- Stolperstein in der Funkenburgstraße 26 (04105 Leipzig, seit 2008), gestiftet in dankbarer Erinnerung von Dr. Anneliese Plätzsch, geborene Döring (†), einer ehemaligen Schülerin von Gertrud Herrmann an der Gaudigschule. Mit den Dörings war G. Herrmann befreundet.
- www.stolpersteine-leipzig.de
- Dokumente und Roll-up zu Gertrud Herrmann (D1004)/ Ausstellungsraum zur Carlebachschule im Schulmuseum Leipzig - Werkstatt für Schulgeschichte (Goerdelerring 20, 04109 Leipzig)
- Deutsche Zentralbibliothek für Blinde: In diesem Gebäude der ehemaligen Carlebachschule, Gustav-Adolf-Straße 7 (04105 Leipzig), wird auf Ausstellungstafeln zur Geschichte des Hauses auch Gertrud Herrmann erwähnt
- 2022 stand ihr Name auf der von der AG Frauenprojekte initiierten Liste mit über 80 Vorschlägen für weibliche Straßennamen in Leipzig, die der Stadt übergeben wurde.
- 1.09.2022 Gegenwart aus Tradition gestalten. Jüdische Frauenperspektiven in Leipzig. Symposium & Workshops des Netzwerkes Jüdisches Leben Leipzig und von Bet Debora Berlin mit Erinnerungen an Henriette Goldschmidt (1825-1920), Bettina Brenner (1877-1948), Edith Mendelssohn Bartholdy (1882-1969), Louise Ariowitsch (1856-1939), Gertrud Herrmann (1896-1942 deportiert), Gerda Taro (1910-1937), Felicia Hart (1903-1976), Alice Seiffert (1897-1976) (alle aus dem Frauen online-Portal) und andere mehr
Zum Weiterlesen/ Literatur/ Quellen
- Barbara Kowalzik, Biographische Skizze der 1. jüdischen Studienrätin Sachsens Gertrud Herrmann (1896-1942), in: Frauen in der Geschichte, Heft 1, Seiten 72-77, Leipzig 1994.
- Barbara Kowalzik, Das jüdische Schulwerk in Leipzig 1912-1933, in: Geschichte und Politik in Sachsen, Band 18, Köln/ Weimar/ Wien 2002.
- Kerstin Kollecker, "Morgen verreise ich mit meinen Kindern ..." Die jüdische Studienrätin Gertrud Herrmann (1896-1942), in: Gewalt gegen Frauen - Frauen gegen Gewalt. Berichte vom 14. Louise-Otto-Peters-Tag 2006 (LOUISEum 26), Seiten 83-92, Leipzig 2007.
- Ellen Bertram, Menschen ohne Grabstein: Gedenkbuch für die Leipziger jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung, 2., wesentlich erweiterte und verbesserte Auflage, Leipzig 2011.
- Jüdische Schulgeschichten: Ehemalige Leipziger erzählen, Leipzig 2011.
- http://www.juden-in-sachsen.de/
Autorin: Kerstin Kollecker, 2014