Kemp, Annerose Helene (geborene Weber) - Leipziger Frauenporträts
Annerose Kemp © Horst Kemp Bilder vergrößert anzeigen
Rubrik
- Bildung/ Pädagogik
- Frauenbewegung
geboren/ gestorben
20. August 1936 (Wiederitzsch) - 9. Dezember 2013 (Leipzig)
Zitat
"Verloren ist für immer, was wir erfahren haben, wovon wir uns aber kein Bild mehr machen oder es verstehen vermögen, und - was wir nicht rechtzeitig weitergegeben haben."
Kurzporträt
Annerose Kemp leistete mit der Erforschung des Lebens und Wirkens der Fröbelpädagogin Henriette Goldschmidt sowie der Geschichte der "Hochschule für Frauen" einen immensen Beitrag zur Frauengeschichtsschreibung und Erinnerungskultur in Leipzig.
Herkunftsfamilie
- Vater: Kurt Ernst Weber, geborener Heidel (1909 -2000), Autoschlosser, später Offizier bei der Feuerwehr
- Mutter: Helene Weber, geborene Kittler (1912-1986), Hausfrau, tätig in einem Kindergarten
- eine Schwester (geboren 1945)
Biografie
Annerose Kemp machte als Kind traumatische Erfahrungen mit dem menschenverachtenden Zweiten Weltkrieg unter anderem im Verlust der familiären Sicherheit und Geborgenheit durch die immer wiederkehrende Umsiedlung von Leipzig ins Vogtland. Ihr Elterhaus war kommunistisch geprägt und politisch aktiv. Der Vater war 1933 in den Konzentrationslagern Sachsenburg und Colditz inhaftiert gewesen. 1934 heirateten Anneroses Eltern; zwei Jahre später wurde sie in Wiederitzsch geboren. Wegen ihrer Kränklichkeit wurde sie zunächst bei Verwandten in Tirschendorf/ Vogtland untergebracht; das Familienleben war geprägt von wirtschaftlicher Not und Existenzangst. Im August 1939 wurde ihr Vater eingezogen und kam erst nach 6 Jahren als amerikanischer Kriegsgefangener im Herbst 1945 wieder nach Hause. Als er Soldat wurde, kam Annerose mit Lymphdrüsen-TBC in das Heim "Sorge" in Adorf/ Vogtland. Nach ihrer Rückkehr wurde sie stundenlang ruhig gestellt in einem Sitz-, Spiel- und Schlafbänkchen, damit die Mutter arbeiten gehen konnte. Eine mehrfach verbogene Wirbelsäule war die Folge.
Annerose gehörte zu der Generation der Kriegskinder, um deren Nöte und Probleme sich die Eltern nicht kümmern konnten. Die frühkindliche Erziehung wurde deshalb für Annerose ein wichtiges Anliegen ihrer späteren beruflichen Tätigkeit, ebenso ihr Credo: Nie wieder sollen Kriegserlebnisse Familienleben zerstören.
Ihre eigene Schulzeit war verbunden mit fünfmaligem Schulwechsel, Fliegeralarmen und körperlicher Bestrafung für die Verweigerung des Hitlergrußes. Als ihre Mutter im Oktober 1943 durch eine Phosphorbombe verletzt wurde, kam Annerose in das Heim "Kinderglück" in Markneukirchen. Ab 24. Februar 1945 war sie wieder in der 6. Volksschule, Scharnhorststraße, in Leipzig und erlebte hier das Kriegsende mit amerikanischen Soldaten, Lebensmittelzuteilungen und der Rückkehr des fremdgewordenen Vaters. Die ersten Neulehrer vermittelten ihr Wissen und beeindruckten sie, während im täglichen Leben weiterhin die Improvisationen, Tauschgeschäfte und "Schwarzmarkt" die entbehrungsreiche Nachkriegszeit charakterisierten. Familiäre Sicherheit zog erst langsam ein, als der Vater ab 1. August 1945 Feuerwehrmann in der Hauptfeuerwache am Fleischerplatz in Leipzig wurde.
Nach Abschluss der 8. Klasse wechselte Annerose 1950 trotz Widerstand ihres Vaters gegen den Oberschulbesuch auf die Rudolf-Hildebrand-Schule in Markkleeberg und lebte dort im Internat. Ihre sehr guten schulischen Leistungen ermöglichten ihr eine Fahrt in die Pionierrepublik "Wilhelm Pieck" am Werbellinsee, später die Teilnahme an den Weltfestspielen der Jugend 1951 in Berlin.
Im September 1952 begann sie ihr Studium als Kindergärtnerin an der Leipziger Henriette-Goldschmidt-Schule, das sie 1954 mit dem Prädikat "Auszeichnung" abschloss; erstmalig hatte ein Arbeiterkind in der seit 1911 bestehenden bürgerlichen Schule für Kindergärtnerinnen so gute Noten erreicht. Ab Mai 1955 arbeitete sie als Kindergartenleiterin in Podelwitz bei Leipzig; am 3. August 1957 heiratete sie ihren Jugendfreund Horst Kemp (03.05.1932 - 27.07.2015). Sie wurden Eltern von zwei Söhnen. 1962 kehrte sie als Lehrerin für Pädagogik/ Psychologie an ihre Studienstätte zurück. Unterbrochen wurde diese Tätigkeit in den Jahren 1964 bis 1966 durch die Übernahme gesellschaftlicher Funktionen, kommunaler Arbeit sowie Mitarbeit in Frauenkommissionen der Stadt Leipzig und weitere Studien von 1966 bis 1967 und von 1975 bis 1977 an der Humboldt-Universität Berlin.
Seit 1977 und bis 1991 gehörte Annerose Kemp durchgehend zum Lehrkörper der Henriette-Goldschmidt-Schule. Die Anerkennung ihrer Arbeit in Lehre und Forschung führte zur Berufung als Fachschuldozentin, 1984 zur Studiendirektorin. Generationen von Kindergärtnerinnen wurden von ihr geprägt. Annerose Kemp fand dabei in der Namensgeberin der Schule ein Vorbild für ihre Arbeit.
Das Studium des pädagogischen Werkes der bedeutenden Fröbelianerin machte Annerose Kemp bewusst, welchen immensen Beitrag Henriette Goldschmidt und ihr Umfeld für die Fröbel-Pädagogik, die Kinderfrüherziehung sowie die Geschichte der "Hochschule für Frauen" über Leipzig hinaus leisteten. Durch ihre zeitintensiven Forschungen entriss sie dem Vergessen: Henriette Goldschmidts großen Anteil bei der Gründung des Frauenbildungsvereins und des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins 1865 in Leipzig (gemeinsam mit Louise Otto-Peters, Auguste Schmidt und anderen), ihr langjähriges Wirken für den Verein für Familien- und Volkserziehung, ihren Kampf für gleiche Bildungschancen für Mädchen und Frauen und das Frauenstudium, die Schaffung von Kindergärten in Leipzig und besonders ihre Rolle in der sich formierenden bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland. Durch diese Forschungen kam Annerose Kemp auch mit dem jüdischen Leben in Leipzig in Berührung. Die Aktenlage und -einsicht hierzu war kompliziert; offiziell wurden andere Forschungsthemen favorisiert. Nach 1990 wurden auch die Archive in Westberlin, Münster, Hannover unter anderem sowie in England und den USA zugänglich und zur Basis für Anneroses Kemps weiterführende Forschungen zur Familie Goldschmidt und dem eng mit der Leipziger Frauenbewegung verbundenen Musikverleger und Stifter Henri Hinrichsen (1868-1942 im Konzentrationslager Auschwitz).
Die direkte Kontaktaufnahme zu den Nachkommen, wie zum Beispiel mit Else Pappenheim (Urenkelin von Henriette Goldschmidt) und deren Ehemann Dr. Stephen Frishauf aus New York, brachte nicht nur für die Forschung enormen Gewinn, sondern auch gelebte Freundschaften, die zu persönlichen Treffen 1997 und 1999 in Wien führten. Besonders ist die Kontaktaufnahme zu Irene Lawford-Hinrichsen (geboren 1935 in Leipzig) hervorzuheben, der in London lebenden Enkelin von Martha und Henri Hinrichsen, die 1937 Leipzig mit ihren Eltern verlassen musste. Durch Annerose Kemp gewannen Irene Lawford und ihre Familie eine neue Sicht auf Leipzig und seine Bewohner/-innen. Die Rückkehr der Musikbibliothek Peters sowie des Musikverlages in den Jahren 2013 und 2014 nach Leipzig sind auch Beleg des gelebten
Vertrauens.
Ab 1993 konnte Annerose Kemp, nun im Ruhestand, sich ganz ihren Forschungen zu Henriette Goldschmidt widmen. In der 1993 gegründeten Louise Otto-Peters-Gesellschaft e. V. fand sie als eines der 18 Gründungsmitglieder die organisatorische Basis für ihre nunmehr außeruniversitären Forschungen, deren Ergebnisse in ungezählten Veröffentlichungen im In- und Ausland erschienen. Sie wurde zu der Expertin in Sachen Henriette Goldschmidt und Co. Mit ihren Forschungen zur Genealogie der jüdischen Familien Goldschmidt und Hinrichsen leistete sie einen bedeutenden Beitrag zum Geschichtsbewusstsein und zur Erinnerungskultur in Leipzig. Gemeinsam mit der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft kämpfte sie ab 1993 für den Erhalt des denkmalgeschützten Henriette-Goldschmidt-Hauses, das bereits 1991 an eine Privatperson verkauft worden war. Annerose Kemp engagierte sich seitdem für den Erhalt des Hauses und seine stiftungsgemäße Verwendung als Haus der Leipziger Frauen.
Trotz ihrer enormen Öffentlichkeitsarbeit, eingebrachten Petitionen und Briefwechsel mit dem Oberbürgermeister und anderen Persönlichkeiten der Stadt Leipzig sowie weiterer Aktivitäten wurde das Henriette-Goldschmidt-Haus am 18. März 2000 abgerissen. Annerose Kemp kämpfte weiter, um andere Spuren von Henriette Goldschmidt in Leipzig zu bewahren. Auf ihren Antrag an das Kulturamt wurde 1996 an der Kindertagesstätte "Henriette Goldschmidt" in der Spittastraße 7 eine Gedenktafel für Henriette Goldschmidt angebracht bzw. auch später Renovierungsarbeiten an der Henriette-Goldschmidt-Schule vorgenommen.
Durch ihre Veröffentlichungen sowie ungezählten Vorträge zu sozialen, historischen, pädagogischen Themen und zur Frauengeschichtsforschung half sie, das Andenken an Henriette Goldschmidt und ihre Mistreiter/-innen in Leipzig, Deutschland und im Ausland zu bewahren. Hervorzuheben ist das dabei entstandene "Archiv Kemp", indem sie mit ihrem Mann Horst ihre Forschungsergebnisse, Publikationen und besonders die Belege für den Schaffensprozess ihrer Protagonisten erfasst hatte
und damit weiterführende Forschungen ermöglicht.
Am 9. Dezember 2013 ist Annerose Kemp in Leipzig verstorben.
Werke
- Kemp, Annerose, Kemp, Horst: Henriette Goldschmidt - ein Glücksfall für Leipzig. Leipzig 2012.
- Kemp, Annerose; Ulm, Eberhard: Henriette - Goldschmidt - Schule 1911 - 2011. Leipzig 2011.
- Kemp, Annerose: "Wir haben Väter der Stadt, wo bleiben die Mütter?" Zum Wirken von Henriette Goldschmidt. Beucha 2002.
- Kemp, Annerose; Ulm, Eberhard: Henriette - Goldschmidt - Schule 1911 - 2001. Leipzig 2001.
- Henriette-Goldschmidt-Schule 1911 - 1991. Leipzig 1991.
- Bildung, Studium und Erwerbstätigkeit von Frauen in Leipzig im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Von Hans M. Modrow, Steffen Held, Susanne Schötz und Annerose Kemp. Beucha 2002.
- Kemp, Annerose: Henriette Goldschmidt. Vom Frauenrecht zur Kindererziehung. In: Judaica Lipsiensia. Zur Geschichte der Juden in Leipzig. Leipzig 1994. Seiten 33-53.
- Kemp, Annerose: Es war kein Schlendern über Blumenmatten. Henriette Goldschmidt (1825 - 1920). In: Wir wollen lieber fliegen als kriechen. Historische Frauenportraits. Herausgeberin Ingaburgh Klatt. Lübeck 1997, Seiten 57-72.
- Kemp, Annerose: Henriette Goldschmidt. In: Lexikon der Rebellinnen. Von A - Z. Herausgeberin Florence Hervé, Ingeborg Nödinger. Dortmund 1996, ebenso: München 1999.
- Kemp, Annerose: Henriette Goldschmidt - Ein Leben für Frauenbildung und Volkserziehung. In: Frauen in der Geschichte Heft 1 und 2/1993. Leipzig 1993. Seiten 27-42.
Adressen in Leipzig
- 1936: Wiederitzsch, Brösikestraße 34
- 1949 :Wiederitzsch, Karl-Marx-Straße 52
- bis 1968: Wiederitzsch, Prof.-Dr.-Koch-Straße 9
- ab 1968: Wiederitzsch, Nordweg 8
Erinnerung/ Gedenken/ Würdigung in Leipzig
- 2013: Ehrenmitglied der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e. V.
- Grab auf dem Friedhof Leipzig-Wiederitzsch
Autor: Dr. Manfred Leyh, 2015