Kirstein, Cläre - Leipziger Frauenporträts
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Rubrik
- Kunst
- Verfolgte/ Opfer des NS
geboren/ gestorben
18. Mai 1885 (Leipzig) - 29. Juni 1939 (Leipzig)
Zitat
"Clare ... was the family beauty ..."
(Suzanne Ruta, The only we've got, in: Berfrois 2014.)
Kurzporträt
Cläre Kirstein, die Ehefrau des früheren Mitinhabers des Seemann-Verlags Gustav Kirstein, führte nach dessen Tod 1934 den Verlag "Meister der Farbe" (ehemaliger Teil von Seemann) bis zur Zwangsarisierung weiter. Nachdem ihr Versuch zu emigrieren von der Gestapo 1939 vereitelt wurde, starb sie durch Selbstmord.
Herkunftsfamilie
- Großeltern, väterlicherseits: Marx Wolf Stein, Helene Elise Stein
- Großeltern, mütterlicherseits: Samuel Guggenheim (1834-1929) und Rosa Guggenheim, Mädchenname Rosina Weil (1837-1911)
- Vater: Samuel Stein (1852-1935)
- Mutter: Emilie geborene Gugenheim/ Guggenheim (1862-1894) aus New Orleans (USA)
- Stiefmutter: Thekla geborene Wolff (1865-1939/40)
- Geschwister: Else Leonie Stein (1893-1958), verheiratet mit dem Schriftsteller Walter Franke-Ruta;
- Neffe: Peter Ruta (1918-2016), Maler
- Mathilde Stein (1882-1942), starb 1942 im Ghetto in Piaksi (Polen)
- Halbbruder: Ernst Max Wolfgang Stein (1903-1970)
- Nichte: Thekla Stein-Nordwind (08.08.1938-12.09.2013)
Biografie
Cläre (Clara Therese) Kirstein war eine Tochter des jüdischen Kaufmanns Samuel Stein und seiner Ehefrau Emilie geborene Gugenheim. Mit 18 Jahren heiratete sie den jüdischen Verlagsbuchhändler Gustav Kirstein (1870-1934), Teilhaber und Geschäftsführer des berühmten Kunstverlags E. A. Seemann. Das Ehepaar Kirstein wohnte viele Jahre mit den beiden Töchtern Heidi Lotte Gabriele (1905-1953) und Marianne Erika (1907-1986) in dem von Paul Möbius erbauten Jugendstilhaus am Thomasring 10 (heute Dittrichring). Die Kirsteins unterhielten freundschaftliche Kontakte zu zahlreichen Literaten, Bibliophilen, Verlegern und Künstlerpersönlichkeiten und deren Familien. In ihrem Sommerhaus in Lindhardt bei Naunhof, das von dem Berliner Architekten Ludwig Hirschfeld erbaut wurde, empfingen sie Gäste, darunter den damals sehr bekannten Dichter Richard Dehmel (1863-1920) und dessen jüdische Ehefrau Ida (1870-1942), die sich für Frauenrechte engagierte und 1926 den Künstlerinnenverband GEDOK gründete.
Cläre und Gustav Kirstein waren beide Kunstsammler. Während der ersten Bugra (Internationale Ausstellung für Buchgewerbe und Graphik) 1914 in Leipzig engagierte sich Cläre wie viele Verlegerfrauen im Haus der Frau. Sie wirkte an der Ausstellung "Büchereien und Sammelwesen" mit und war gemeinsam mit der Sammlerin Ida Schoeller für den Bereich "Bibliophilie" verantwortlich. Max Klinger (1857-1920) schuf ein Exlibris für ihre private Büchersammlung. Die ältere Tochter der Kirsteins, Gabriele, verheiratete sich mit dem jüdischen Kinderarzt Erich Jacobsen (1895-1977). Die zweite Tochter Marianne schloss 1929 die Ehe mit Reinhold Baer (1902-1979), einem Mathematiker von Weltruf.
Das schicksalhafte Jahr 1933 mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten warf trübe Schatten auf das Leben der Familie. Gustav Kirsteins Geschäftspartner, Elert A. Seemann, wurde frühzeitig Mitglied der NSDAP und trennte sich am 1. Juli von ihm. Kirstein wurde mit einem Verlagsteil von Seemann abgefunden, Seemann & Co., der nun Farbreproduktionen von Gemälden als Kunstblätter herausgab und später in "Meister der Farbe" umbenannt wurde. Im gleichen Jahr war es auch mit dem gesellschaftlichen Leben der Familie vorbei.
Gustav Kirstein verlor nicht nur seine Ehrenämter, sondern auch viele Bekannte. Vom öffentlichen Leben war er - wie alle anderen Juden - ausgeschlossen, was auch Auswirkungen auf seine Familie hatte. Cläre und Gustav Kirstein zogen aus dem Zentrum in die ruhigere Montbéstraße 8 (heute Trufanowstraße). Die Ursache von Kirsteins plötzlichem Tod am 14.02.1934 belegt ein Brief der Haushälterin Lore Kurzhals an Cläre Kirsteins Bruder Ernst in den USA vom 18.02.1934. Demnach starb Gustav Kirstein nicht durch Selbstmord, wie oft behauptet, sondern an einem Herzleiden, verschlimmert durch die vielen Demütigungen und Schikanen.
Nach dem Tod ihres Mannes führte seine Witwe Cläre zunächst den Verlag "Meister der Farbe" weiter. Ihr Schwager Berthold Kirstein beriet sie in finanziellen und rechtlichen Fragen. In diesen schwierigen Jahren finanzierte sie die Auswanderung ihrer beiden Töchter Gabriele und Marianne sowie ihres Neffen Peter Franke-Ruta. Der spätere Maler Franke-Ruta hatte als Dreizehnjähriger zeitweilig bei dem Ehepaar Kirstein gelebt. 1936 kam er mit dem Schiff in New York an. Tante Cläre hatte ihm vorab eine Stelle bei dem amerikanischen Kunsthändler Lesch verschafft, der früher für Gustav Kirsteins Verlag tätig war.
Der Verlag "Meister der Farbe" wurde im Dezember 1938 arisiert. Das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda bestellte den SS-Standartenführer Gerhard Noatzke zum Treuhänder des Unternehmens. Nachdem der Verlag beschlagnahmt worden war, erhielt Cläre Kirstein die Gewinne daraus nicht mehr ausgezahlt. Als Jüdin fühlte sie sich im Dritten Reich zunehmend bedroht und betrieb Ende 1938 ihre Ausreise zu ihrem Halbbruder Ernst Max Wolfgang Stein in New York. Als sie emigrieren wollte, musste sie ihre Kunstsammlung verkaufen. Einen Teil der graphischen Blätter übergab sie der Firma C. G. Boerner. Am 07.05.1939 hatte Cläre Kirstein noch dem Leipziger Museum der bildenden Künste eine Reihe von Klingers Werken angeboten, die sie aber aufgrund ihres hohen Wertes nicht mehr selbst veräußern durfte. Die Verhandlungen kamen zu keinem Abschluss. Sie ließ von einer Spedition ihre Habe und einen Teil ihrer Kunstsammlung verpacken und nach Amerika zu ihrem Halbbruder verschiffen. Die Schiffsladung wurde konfisziert. Unter ihren Besitztümern hatten sich 54 Bilder befunden. Die Kunstsammlung wurde später zerstreut, der Verkaufserlös durch die Nazis eingezogen. Ein großer Teil der Kunstwerke gelangte 1939 an das Leipziger Museum der bildenden Künste. (Eine Restitution von insgesamt 80 Gemälden, Zeichnungen und Drucken an die rechtmäßigen Erben fand am 25.09.2000 statt.)
Am 29.06.1939 beging Cläre Kirstein Selbstmord, einen Tag vor der geplanten Ausreise. Die Gestapo hatte ihr den Pass weggenommen, weil sie die Reichsfluchtsteuer für Juden nicht mehr bezahlen konnte.
Aus Cläre Kirsteins Verwandtschaft fielen etwa 40 Personen dem Holocaust zum Opfer. Sowohl Gustav als auch Cläre Kirstein wurden auf dem Südfriedhof Leipzig beigesetzt. 1963 wurden ihre Grabsteine nach Ablauf der Fristen entfernt.
Adressen in Leipzig
- 1885: Humboldtstraße 9
- 1888: Eutritzscher Straße 8
- 1895: Nordstraße 58
- 1903: Funkenburgstraße 1
- 1904-1933: Thomasring 10 (heute Dittrichring)
- ab 1934: Montbéstraße 8 (heute Trufanowstraße)
Erinnerung/ Gedenken/ Würdigung in Leipzig
Stolpersteine für Clara und Gustav Kirstein vor dem Haus Trufanowstraße 8
Zum Weiterlesen/ Literatur/ Quellen
Literatur
- Braun, Eckhard: Die Restitution der Sammlung Kirstein, in: Museum der bildenden Künste Leipzig. Jahresheft Band 7, Leipzig 2000 (2001), Seite 45-48.
- Knopf, Sabine: Gustav Kirstein. Ein jüdischer Verleger, Bibliophile und Kunstsammler, in: Imprimatur N.F. Band 18, 2003, Seite 289-312.
- Ruta, Suzanne: The Only One We've Got, in: Berfrois. 28.4.2014.- www.berfrois.com/2014/04/suzanne-ruta-the-only-one-we-have-got/ Zugriff am 30.10.2014.
- Tauber, Henry: Max Klingers Exlibriswerk, Wiesbaden 1989.
Quellen
- Deutsches Literaturarchiv Marbach, NL Kippenberg, Brief von Cläre Kirstein an Anton Kippenberg vom 28.03.1934 (Nummer 64.1299).
- SächsStAL, Börsenverein Leipzig (I), Kunstverlag Seemann & Co., Leipzig. F 08584
- Leo Baeck Institute, New York, Nachlass von Thekla Stein Nordwind. Kirstein family. Digitalisiert. www.archive.org/stream/theklasteinnordw01nord (Zugriff am 10.06.2015 und 01.09.2020).
- Eintragung im Gedenkbuch des Bundesarchivs. Opfer der Verfolgung der Juden unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland 1933 -1945. https://www.bundesarchiv.de/gedenkbuch/2060040/ (Zugriff am 21.9.2020).
Autorin: Sabine Knopf (2020)