Lipsius, Ida Marie - Leipziger Frauenporträts
Marie Lipsius, Stich und Druck von A. Weger, Leipzig © Stadtgeschichtliches Museum Bilder vergrößert anzeigen
Rubrik
- Literatur
- Musik
- Bildung/ Pädagogik
geboren/ gestorben
30. Dezember 1837 (Leipzig) - 2. März 1927 (Schmölen)
Zitat
"Mir schenkte Gott ein anderes Glück: er ließ mich in der musikschriftstellerischen Begabung, die er mir anvertraut hatte und die bisher in mir schlummerte, meinen innersten Beruf erkennen." (1917)
Kurzporträt
Die Schriftstellerin und Musikhistorikerin, Feuilletonistin und Herausgeberin Marie Lipsius veröffentlichte 1882 mit dem Band "Die Frauen im Tonleben der Gegenwart" das erste Buch über Musikerinnen in der deutschsprachigen Musikgeschichtsschreibung.
Herkunftsfamilie
- Vater: Karl Heinrich Adelbert Lipsius (1805-1861), Theologe und Pädagoge
- Mutter: Juliane Molly geborene Rost (1805-1842)
- Stiefmutter ab 1852: Lina Wohlfarth (geboren 1820)
- Brüder:
- Richard Adelbert (1830-1892), Theologieprofessor
- Johann Wilhelm Constantin (1832-1894), Architekt
- Justus Hermann (1834-1920), Philologieprofessor
Biografie
Marie Lipsius und ihre drei älteren Brüder wuchsen in einer musischen Familie im Umfeld der Thomasschule auf. Vater Karl Heinrich Adelbert Lipsius war dort als Lehrer, ab 1847 als Konrektor, ab 1861 als Rektor tätig. Ihre Mutter war die Tochter von Friedrich Wilhelm Ehrenfried Rost, der 1802 von der Universität Wittenberg als Dichter preisgekrönt worden und ein Vorgänger von Lipsius im Amt als Konrektor und Rektor der Thomasschule gewesen war. Literatur, Klavierunterricht und Hausmusik gehörten zum Bildungskanon der Pädagogenfamilie.
Zwei Brüder Maries setzten die familiäre Berufstradition fort: Richard Adelbert Lipsius (1830-1892) wirkte als Theologieprofessor an den Universitäten in Leipzig, Wien, Kiel und Jena, Justus Hermann Lipsius (1834-1920) ab 1866 als Rektor der Nikolaischule, 1877 bis 1914 als Professor der klassischen Philologie an der Universität Leipzig und 1891/92 als deren Rektor. Der dritte Bruder, Johann Wilhelm Constantin Lipsius (1832-1894), wurde ein bedeutender Architekt des Historismus. Und Marie Lipsius gelang es, sich als Frau im 19. Jahrhundert ein ganz eigenes Wirkungsfeld zu schaffen.
Mit zwölf Jahren besuchte Marie Lipsius eine höhere Fortbildungsschule für junge Mädchen, an der sie Sprachunterricht hatte und sich an Theater- und Hausmusikaufführungen beteiligte. Hier lernte sie Laura Pohl kennen, die ihre Freundin, später auch ihre Schwägerin wurde. Im Haus von Lauras Vater, des Chirurgen Dr. med. Gustav Pohl, wurde die Lehrerstochter Marie mit der Leipziger Salonkultur bekannt. Lauras älterer Bruder Richard Pohl (1826-1896), später ein bekannter Musikschriftsteller, führte sie durch gemeinsames Vierhändig-Spielen in die Kompositionen von Franz Liszt, Richard Wagner und Hector Berlioz ein. Diese Komponisten bekannten sich zu einer von den Konservativen bespöttelten "Musik der Zukunft", die eine "Verbindung von Poesie und Musik" (Liszt) anstrebte. Im Jahr 1856 machte Richard Pohl in Weimar die damals 19-jährige Marie persönlich mit Franz Liszt (1811-1886) und dessen Lebensgefährtin Fürstin Carolyne von Sayn-Wittgenstein (1819-1887) bekannt. Marie durfte nun private Konzerte und Proben zu Uraufführungen in diesem Kreis miterleben. Diese Begegnungen prägten ihr weiteres Leben.
Nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 1861 wollte sich Marie Lipsius einen eigenen "Lebenszweck" schaffen. Finanzielle Erwägungen scheinen dabei keine Rolle gespielt zu haben. Nach dem anonymen Abdruck ihrer Besprechung der neuesten Novelle von Paul Heyse im "Literarischen Zentralblatt" wurde sie von Laura und Richard Pohl zu weiteren Veröffentlichungen aufgefordert.
1867 erschienen in "Westermanns Monatsheften" unter dem Titel "Musikalische Studienköpfe" drei musikbiografische Texte über Robert Schumann, Franz Liszt und Frédéric Chopin von ihr. Sie hatte sich für ein Pseudonym entschieden und aus den Namen Marie und Laura "La Mara" gebildet, was anfangs zu der Annahme einer doppelten Autorenschaft beider Frauen führte. Auch weitere ihrer Musikerporträts fanden als Vorabdrucke in Zeitschriften ein interessiertes Publikum. La Maras größter Förderer war Franz Liszt. Er lobte ihre Aufsätze, was deren Popularität steigerte, und öffnete ihr mit seinen Empfehlungen den Weg zu wichtigen Persönlichkeiten des Musiklebens, Musikliebhabern, Musikerinnen und Musikern. Marie Lipsius konnte so für ihre Arbeit bisher unbekannte oder unveröffentlichte Dokumente, Briefe und weitere Quellen erschließen. Viele der Porträtierten hat Marie Lipsius im Konzert selbst erlebt. Von 1868 bis 1881 erschienen als Hauptwerk ihre umfangreich recherchierten vier Bände "Musikalische Studienköpfe". Band 1 ist den "Romantikern" gewidmet, Band 2 den "ausländischen Meistern", Band 3 den Musikern der "Jüngstvergangenheit und Gegenwart", Band 4 den "Classikern".
Die Musikbiografik war im 19. Jahrhundert innerhalb der sich herausbildenden Musikwissenschaft einer der Bereiche, in dem Frauen auch ohne universitäre Vorbildung tätig werden durften. Ende des 19. Jahrhunderts gab es mit Lina Ramann (1833-1912) und Anna Morsch (1841-1916) zwei weitere deutsche Musikschriftstellerinnen. In ihrem Beitrag über Marie Lipsius (MUGI) weist die Musikwissenschaftlerin Martina Bick auf die Besonderheiten der Arbeitsweise La Maras hin: Die biografischen Porträts der "Musikalischen Studienköpfe" verfasste sie nach einheitlichem Schema. Der Einleitung mit wertender Einordung des Musikers folgen Lebensweg und Werkgeschichte. Die Quellen werden genau angegeben. Soweit möglich, führte La Mara mit Künstlern, Verwandten und Zeitzeugen eine umfangreiche Korrespondenz. Im Register ihrer Autobiografie verzeichnete sie später etwa 1.200 Namen von Komponisten, Dirigenten, Schauspielern, von Fürsten, Militärs und Politikern. Sie nutzte selbst entworfene Fragebögen, Originaldokumente und Fachliteratur. Für den Band "Classiker" studierte sie bereits vorhandene Biografien. Das Werkverzeichnis jedes Komponisten wurde überprüft, ergänzt oder von ihr erstmalig zusammengestellt. Vor der Veröffentlichung erhielten die Porträtierten Gelegenheit zum Gegenlesen, was La Mara zum Teil den Vorwurf allzu großer Subjektivität einbrachte. Insgesamt war die Resonanz der "Musikalischen Studienköpfe" bei den Porträtierten, anderen Musikschriftsteller/-innen und den Leser/-innen sehr positiv.
In Band 5 stellte La Mara 1882 erstmals "Die Frauen im Tonleben der Gegenwart" vor. (Erst 1893 folgte mit Anna Morschs Band "Deutschlands Tonkünstlerinnen. Biographische Skizzen aus der Gegenwart" eine weitere deutschsprachige Übersicht zum Wirken von Frauen im Musikleben der Zeit.) Die Erstauflage enthält Porträts von Pianistinnen wie Sofie Menter und Annette Essipoff, dazu drei Komponistinnen, die auch als Pianistinnen bzw. Sängerinnen bekannt wurden, Clara Schumann, die Geigerin Wilma Neruda-Norman und zehn Sängerinnen. In den folgenden zwei Auflagen ersetzte sie einzelne Porträts durch neue erfolgreiche Musikerinnen. Die Darstellungen sind viel kürzer als die der Musiker in den Bänden eins bis vier; die nicht so umfangreichen Werkverzeichnisse der Komponistinnen erscheinen im Text oder als Fußnote. La Mara folgte dem Vorurteil ihrer Zeit, den Mann als schöpferischen Genius, die Frau als reproduzierende Kraft, auch in der Kunst, zu begreifen. Im Vorwort zur 3. Auflage 1902 schreibt sie: "[...] Keine Komponistin noch hat epochemachend oder gar bahnbrechend gewirkt, keine ihren Weg durch unvergängliche Taten bezeichnet [...] An die Stelle der die Idee repräsentierenden Komposition, eröffnet sich ihnen in der die Verwirklichung derselben vertretenden Virtuosität ein unbestrittener Wirkungskreis", welchem Marie Lipsius aber durchaus eigenschöpferische Möglichkeiten zugesteht, indem der Virtuose "das Ideal [des Komponisten] nachschafft" (Liszt).
Ab 1859 verband Marie Lipsius eine enge Freundschaft mit der Schriftstellerin und Sängerin Similde Gerhard (1830-1903), die als jüngstes Kind des Kaufmanns, Dichters, Naturwissenschaftlers und Goethe-Freundes Wilhelm Gerhard schon frühzeitig mit Künstlern und Musikern Umgang hatte. Ab 1882 wohnten Similde und Marie in eheähnlicher Gemeinschaft im Herrenhaus Gerhards Garten, Lessingstraße 4. Gemeinsam veröffentlichten sie 1882 das Buch "Der deutschen Jungfrau Wesen und Wirken. Winke für das geistige und praktische Leben". Marie Lipsius unterstützte ihre Freundin bei deren zahlreichen wohltätigen Aktivitäten. Reisen führten beide nach Wien, Rom, Neapel, Sizilien, London, Paris, an den Gardasee und in die Steiermark. 1903 verstarb Similde Gerhard.
Ab 1886 gab La Mara Briefe der von ihr geschätzten Musiker heraus. Nach den "Musikerbriefen aus fünf Jahrhunderten" veröffentlichte sie von 1893 bis 1905 "Franz Liszt's Briefe" in acht Bänden, danach weitere Bände mit Briefen von und an Liszt, von Richard Wagner, Hector Berlioz u.a.m. Ab 1910 bearbeitete sie die Musikerporträts aus ihren "Musikalischen Studienköpfen", die dann als "Kleine Musikerbiographien. Neubearbeitete Einzeldrucke aus den Musikalischen Studienköpfen" ab 1911 in Fortsetzungen jährlich bei Breitkopf & Härtel noch bis 1929, über ihren Tod hinaus, erschienen. Nach Vorabdruck der Musikerporträts in den Zeitschriften war das die dritte Verwertung des Stoffs, was für ihre Geschäftstüchtigkeit spricht.
Ihr Band "Liszt und die Frauen" erschien 1911. Sie hatte sich für dieses Thema entschieden, nachdem Lina Ramann die erste umfassende, von Franz Liszt autorisierte Biografie "Franz Liszt als Künstler und Mensch" verfasst hatte (4 Band, 1880-1894). La Mara stellte in ihrem Buch 26 Frauen aus dem Umfeld von Franz Liszt vor, die ihm als Gefährtin oder Mäzenin verbunden gewesen waren. 1917 veröffentlichte sie die zweibändige Autobiografie "Durch Musik und Leben im Dienste des Ideals" in Leipzig. Anlässlich ihres 80. Geburtstages wurde ihr ehrenhalber der königlich-sächsische Professorentitel verliehen.
1921 vermittelte Schwägerin Laura Lipsius, geborene Pohl, ihrer nun 84-jährigen Freundin Marie, die durch eine Staroperation und einen Unfall geschwächt war, einen Gastaufenthalt bei der Familie des Juristen Dr. Carl Schultz im Herrenhaus Schmölen. Hier hatte Marie Lipsius in den Jahren 1852 bis 1856 mit Laura und Richard Pohl, deren Familie das Rittergut von 1826 bis 1856 gehörte, schöne Sommeraufenthalte verbracht. Von Familie Schultz zu dauerhaftem Aufenthalt eingeladen, löste Marie Lipsius bis Februar 1922 ihren Leipziger Haushalt auf und zog nach Schmölen. Durch die Fürsorge dieser Familie konnte sie trotz ihres durch die Inflation entwerteten Vermögens sorglose Jahre verbringen. Sie nahm weiter aktiv am gesellschaftlichen Leben teil, besuchte Musikaufführungen in Wurzen und hielt musikalische Vorträge vor dem dortigen Hausfrauenverein. 1925 erschien ihr Band "An der Schwelle des Jenseits. Letzte Erinnerungen an die Fürstin Carolyne Sayn-Wittgenstein". Im 90. Lebensjahr verstarb La Mara am 2. März 1927 in Schmölen. Ihr Grabstein befindet sich heute im Park am Herrenhaus, das als Pension betrieben wird und mit einem "La Mara" gewidmeten Zimmer an die Musikschriftstellerin erinnert. In Leipzig ist Marie Lipsius heute fast vergessen. 2012 erinnerte die Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e. V. deshalb mit einer Gedenkveranstaltung an ihren 175. Geburtstag.
Werke
- Musikalische Studienköpfe, Bände 1-4, 1868-1881. 1868, Hermann Weißbach Verlag, Band 1, Romantiker (Weber, Schubert, Mendelssohn, Schumann, Chopin, Liszt, Wagner; 1871, Hermann Weißbach Verlag, Band 2, Portraits der "ausländischen Meister" Luigi Cherubini, Gaspare Spontini, Gioachino Rossini, François-Adrien Boieldieu, Hector Berlioz; 1875, Verlag Schmidt und Günther in Leipzig, Band 3, Musiker aus der "Jüngstvergangenheit und Gegenwart": Ignaz Moscheles, Carl Ferdinand David, Adolf Henselt, Robert Franz, Anton Rubinstein, Johannes Brahms, Carl Tausig; 1881, Verlag Breitkopf & Härtel, Band 4: "Classiker" (Georg Friedrich Händel, Johann Sebastian Bach, Christoph Willibald Gluck, Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven).
- Musikalische Studienköpfe, Band 5, 1882: Frauen im Tonleben der Gegenwart. (In der Erstauflage: Porträts der Pianistinnen Sofie Menter, Annette Essipoff, Vera Timanoff, Mary Krebs, Anna Mehlig und Wilhelmine Szarvady-Clauß, Laura Rappoldi-Kahrer, Pauline Fichtner-Erdmannsdörfer, Anabella Goddard und Erika Lie-Nissen, dazu mit Ingeborg von Bronsart, Pauline Viardot-Garcia drei Komponistinnen, die auch als Pianistinnen beziehungsweise Sängerinnen bekannt wurden, und Clara Schumann, die Geigerin Wilma Neruda-Norman, die Sängerinnen Désirée Artôt, Zelia Trebelli, Adelina Patti, Christine Nilsson, Marie Wilt, Amalie Joachim, Pauline Lucca, Marianne Brandt, Therese Vogl und Amalie Materna).
- Classisches und Romantisches aus der Tonwelt, Leipzig 1892.
- Beethovens unsterbliche Geliebte. Das Geheimnis der Gräfin Brunsvik und ihre Memoiren, Leipzig 1909.
- Liszt und die Frauen, Leipzig 1911.
- Beethoven und die Brunsviks. Nach Familienpapieren aus Therese Brunsviks Nachlass, Leipzig 1920.
Adressen in Leipzig
- 1882-1906: Marie, Fräulein, Musikschriftstellerin, Lessingstraße 4, 1. Etage (bis 1903: bei Fräulein S. Gerhard)
- 1907-1922: Marie, Fräulein, Musikschriftstellerin, Wettinerstraße 9, 3. Etage (ab 1918 mit Nennung des 1917 ehrenhalber verliehenen Professorentitels)
Erinnerung/ Gedenken/ Würdigung in Leipzig
- Die Lipsiusstraße, Leipzig/Reudnitz-Thonberg, wurde 1908 zu Ehren ihres Vaters benannt.
- 870 Autographe von ihr im Stadtgeschichtlichen Museum, Markt 1, 04109 Leipzig
Zum Weiterlesen/ Literatur/ Quellen
- La Mara: Durch Musik und Leben im Dienste des Ideals, 2 Bände, Leipzig 1917.
- http://mugi.hfmt-hamburg.de [Abruf 07.11.2013].
- Eugen Isolani, Eine Liszt-Freundin. Zum 70. Geburtstag der Musikschriftstellerin La Mara, in: Der Leipziger, 1907, Heft 52.
- Schmölen war das Paradies ihrer Jugend und ein Sanssouci im Alter. Zum 150. Geburtstag von Maria Lipsius (La Mara) von Richard Klinkhardt. Zeitungsartikel von 1987, ohne Quellenangabe.
Autorin: Gerlinde Kämmerer, 2013