Novak, Helga M. (geborene Nowak) (Maria Karlsdottir) - Leipziger Frauenporträts
Helga M. Novak © Modeste von Unruh Bilder vergrößert anzeigen
Rubrik
- Literatur
geboren/ gestorben
8. September 1935 (Berlin) - 24. Dezember 2013 (Rüdersdorf bei Berlin)
Zitat
"ich bin ostdeutsch und ich ziehe/ einen Klumpen Hoffnung hinter mir her."
("Bekenntnis" in: Gesammelte Gedichte, Seite 128)
Kurzporträt
"Eine große Prosa-Autorin und bedeutende deutsche Lyrikerin" (Günter Grass). Auf der Suche nach Wahrheit schuf sie die ultimative, totale Autobiografie einer Unbehausten.
Herkunftsfamilie
- Vater (Freitod 1937), Architekt
- Mutter: Magdalene Ida Marie Schmidt
- Adoptiert von Charlotte Nowak, geborene Teltow, Hausfrau (09.05.1895-19.08.1972) und Karl Nowak (23.05.1891-06.04.1971), Kaufmännischer Angestellter
Biografie
Schwierig begann Helga M. Novaks Lebensweg. Die Mutter gab sie zur Adoption frei. Nachdem sie die ersten Lebensjahre im Waisenhaus vernachlässigt worden war, nahm sich ihrer das Ehepaar Nowak aus Erkner an und adoptierte sie Anfang 1940. Vor allem von der Mutter fühlte sie sich drangsaliert und nicht verstanden, was zur frühen Trennung von den Adoptiveltern führte. In Kriegs- und Nachkriegszeit erschloss sie sich die märkische Landschaft mit ihren Wäldern und Seen. In den Wirren der Zeit mit Bombennächten, Kapitulation und Besetzung durch die Rote Armee entwickelten sich ihr scharfer Sinn für die Probleme der Menschen und ihr Widerspruchsgeist.
Nach dem Besuch der Internatsoberschule in Waldsieversdorf bei Buckow begann sie 1954 das Studium der Journalistik an der Universität Leipzig sowie von Philosophie, Literatur-, Kunst- und Theaterwissenschaft. Im letzten Semester wurde sie von der Staatssicherheit bedrängt, isländische Studenten zu bespitzeln, darunter ihr Freund Eystjenn; mit ihm floh sie 1957 nach Reykjavik, kehrte jedoch schon wenige Monate später nach Ostberlin zurück, wo sie im Werk für Fernsehelektronik am Band und im Labor arbeitete, bis ihr Sohn Ragnar Alexander zur Welt kam. 1961 heiratete sie Thor Vigfusson und kehrte mit ihm kurz vor dem Bau der Mauer nach Island zurück. Dort gebar sie ihre Tochter Nina.
Im Selbstverlag veröffentlichte sie erste Gedichte mit dem Titel "ostdeutsch". Das Buch diente ihr als Reverenz, um einen Verlag zu gewinnen. Das meiste übernahm Luchterhand für den Band "Die Ballade von der reisenden Anna". Als Dichterin unter dem Namen Helga M. Novak etabliert, wurde sie am Literaturinstitut "Johannes R. Becher" immatrikuliert. Georg Maurer protegierte sie; Sarah und Rainer Kirsch, Andreas Reimann, Heinz Czechowski, Werner Bräunig, Hubert Witt unter anderem wurden ihre Freunde. Gedichte, die sie damals schrieb, sammelte die Staatssicherheit, darunter "Tiefdruck", das mit den Worten beginnt: "Stadt / einer hat dein letztes Streichholz ausgeblasen". Der Protestdemonstration am 31. Oktober 1965 gegen das staatliche Verbot der Beatmusik widmete sie "Gammler von Leipzig".
Bereits im Dezember 1965 nach dem 11. Plenum wurde sie wegen ihrer kritischen Auffassungen und ihres Eintretens für Dieter Mucke, dem ersten Relegierten, sowie wegen ihrer Beziehungen zu Robert Havemann und Wolf Biermann exmatrikuliert und bald darauf aus der DDR ausgewiesen. Da mit einem Isländer verheiratet, zwangen sie die DDR-Behörden, die isländische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Nach dem Recht dieses Staates hieß sie nun Maria Karlsdottir. Diese Namensänderungen nutzten ihr beim Einreisen nach Ostberlin und für wiederholte Besuche bei Robert Havemann in Grünheide. Während der Ausbürgerungsaktion lud die Gruppe 47 sie zu ihrer Tagung nach Princeton (USA) ein.
Auf Island und in Norwegen verdiente sie Geld beim Heringsalzen, in Fischfang- und -verarbeitung oder in Teppichwebereien, auch als Köchin auf Trawlern. Zur Nelkenrevolution 1974 in Portugal arbeitete sie dort in der Landwirtschaft. In den 70er Jahren lebte sie mit Horst Karasek in Frankfurt am Main und war in der Studentenbewegung involviert. Ihr Sohn besuchte eine deutsche Waldorfschule, die Tochter wuchs bei ihrem Vater in Island auf. 1978, vor ihrer Stadtschreiberzeit in Bergen-Enkheim zog sie nach Westberlin. Studienreisen führten sie nach China, in die USA, nach Brasilien, sie war in der Türkei, in Marokko, in Norwegen und Schweden, Frankreich und Spanien, in Griechenland, Italien und in der Tschechoslowakei. In Jugoslawien auf der Insel Korčula hatte sie ein Sommerdomizil. Der Krieg vertrieb sie, und sie baute sich im Wald von Legbąd in Polen ein Haus. Früh schon hatte sie sich in der Solidarnosc-Bewegung engagiert und geholfen, wo es ihr möglich war. "Immer wieder zog es sie dorthin, wo Geschichte in Bewegung geriet, wo die Freiheit in der Luft lag", schrieb Marion Brandt (PAL). Und Helga M. Novak selbst bekannte: "[...] aus der Freiheit fließt Verantwortung." (Notiz aus dem Nachlass)
Krank und auf Hilfe angewiesen, zog sie nach Erkner, dem Ort ihrer Kindheit, und wurde in das Ehrenbuch der Stadt eingetragen. Dort befindet sich ihr Grab.
Ihre Gedichte, Erzählungen und vor allem ihre autobiographischen Romane "Die Eisheiligen" und "Vogel federlos" waren im Westen Deutschlands populär, im Osten gingen nur Abschriften ihrer Gedichte heimlich von Hand zu Hand.
Sie arbeitete als Journalistin für Zeitschriften und Rundfunk. Es entstanden Features und 29 Hörspiele. Für ihre literarischen Werke erhielt sie viele Literaturpreise. Es gibt Übersetzungen ins Englische, Französische, Isländische, Italienische, Norwegische, Polnische, Russische. "Im Schwanenhals", der letzte Teil ihrer "totalen Autobiografie" (Konstantin Ulmer), erschien kurz vor ihrem Tod und kann Vieles, aber die letzten Rätsel dieses Lebens nicht lösen.
Werke
- 1965: Ballade von der reisenden Anna, Gedichte. Neuwied, Berlin: Luchterhand (Auswahl aus ostdeutsch, 1963).
- 1967: Colloquium mit vier Häuten. Gedichte und Balladen. Neuwied, Berlin: Luchterhand.
- 1968: Geselliges Beisammensein. Prosa. Neuwied, Berlin: Luchterhand.
- 1970: Wohnhaft in Westend. Dokumente, Berichte, Konversation. Mit Horst Karasek. Neuwied, Berlin: Luchterhand.
- 1971: Aufenthalt in einem irren Haus. Erzählungen. Neuwied, Berlin: Luchterhand.
- 1972: Eines Tages hat sich die Sprechpuppe nicht mehr ausziehen lassen. Texte zur Emanzipation zur Mündigkeit. Mit Horst Karasek. München, Gütersloh, Wien: Bertelsmann.
- 1972: Fibelfabel aus Bibelbabel oder Seitensprünge beim Studium der Mao-Bibel. Hörspiel. Musik: Hans Martin Majewski. Hamburg: Deutsche Grammophon; Neuwied: Luchterhand.
- 1973: Seltsamer Bericht aus einer alten Stadt. Mit Bildern von Dorothea Nosbich. Hannover: Fackelträger- Verlag.
- 1975: Die Ballade von der kastrierten Puppe. Mit zehn Federzeichnungen von Peter Kaczmarek. Einmalige und
- signierte Ausgabe von 250 Exemplaren. Leverkusen: Literarischer Verlag Helmut Braun.
- 1975: Balladen vom kurzen Prozess. Berlin: Rotbuch 138.
- 1976: Die Landnahme von Torre Bela. Prosa. Berlin: Rotbuch.
- 1978: Margarete mit dem Schrank. Gedichte. Berlin: Rotbuch.
- 1979: Die Eisheiligen. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand (Neuauflagen:1981 und 1998).
- 1980: Palisaden. Erzählungen (1967-1975). Darmstadt, Neuwied: Luchterhand.
- 1982: Vogel federlos. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand (Neuauflage 1984 und 1998).
- 1983: Grünheide Grünheide. Gedichte von 1955 bis 1980. Mit einem Vorwort von Jürgen Fuchs. Darmstadt, Neuwied: Luchterhand.
- 1985: Legende Transsib. Gedichte. Darmstadt: Neuwied Luchterhand.
- 1989: Märkische Feenmorgana. Gedichte. Frankfurt am Main: Luchterhand.
- 1995: Aufenthalt in einem irren Haus. Gesammelte Prosa. Frankfurt am Main: Schöffling & Co.
- 1996: United Colors of Buxtehude. Ein Kettengedicht von Uli Becker, Michael Buselmeier, Kerstin Hensel und Helga M. Novak. Leipzig: Faber & Faber.
- 1997: Silvatica. Gedichte. (Zusammengestellt von R. Jorek) Frankfurt am Main: Schöffling & Co.
- 1999: solange noch Liebesbriefe eintreffen. Gesammelte Gedichte. Mit einem Nachwort von Eva Demski. Herausgegeben von Rita Jorek. Frankfurt am Main: Schöffling & Co. (2. erweiterte Auflage in zwei Bänden 2008).
- 2005: Aus Wut. Gedichte. Halbleinen. Mit Lithographien von Dieter Goltzsche. Berlin: Edition Mariannenpresse.
- 2010: Lebendiger Fund. Erzählung. (Mitwirkung von R. Jorek). Verlag Ulrich Keicher Warmbronn. (Neu in: Helga M. Novak zum Gedächtnis. Frankfurt am Main: Schöffling & Co. 2014).
- 2013: Im Schwanenhals. Unter Mitwirkung von R. Jorek entstanden. Leinen. Frankfurt am Main: Schöffling & Co.
- 2014: Gorgonenhaupt. Letzte Gedichte. In: Helga M. Novak zum Gedächtnis. Frankfurt am Main: Schöffling & Co. 2014.
Adressen in Leipzig
- 1953-1957: Tieckstraße 3-5 (Internat der Fakultät für Journalistik)
- 1965: Tschaikowskistraße 16
- 1965/1966: Leninstraße 65 (heute Ring 65), Markkleeberg, bei R. Jorek
- 2004: Ring 69, Markkleeberg, bei R. Jorek
Erinnerung/ Gedenken/ Würdigung in Leipzig
- 2022: Die GEDOK Mitteldeutschland-Jahresausstellung "vier von vielen" erinnerte an die Künstlerinnen Christel Blume-Benzler, Edith Müller-Schkeuditz, Helga M. Novak und Dora Schönefeld, die mit ihrem Engagement die nach der Wiedervereinigung neu gegründete GEDOK-Regionalgruppe in Leipzig prägten.
Zum Weiterlesen/ Literatur/ Quellen
Im Internet sowie in allen aktuellen Lexika und Literaturlexika
- Marion Brandt, In: PAL (Przegląd Artystyczno Literacki) Toruń 2000.
- Eva Demski, Allerleirauh. In: solange noch Liebesbriefe eintreffen. Gesammelte Gedichte. 1999/2008.
- Heiner Geißler (über das Gedicht "Melancholie"). In: Einigkeit und aus Ruinen. Hrsg. von Heinz Ludwig Arnold. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 1999, Seiten 64/65.
- Rita Jorek: Ich bin ostdeutsch. Anmerkungen zur Schriftstellerin Helga M. Novak. In: Leipziger Blätter. Heft 30/1997.
- Rita Jorek: Diese Poesie ist Ordnung und Anarchie. Warmbronner Schriften 24/2010, Seiten 22-32. (zum Christian-Wagner-Preis).
- Rita Jorek: Heimatlose Dichterinnen. Die Schicksale von Elsa Asenijeff und Helga M. Novak. LOUISEum 34. Herausgegeben von Gerlinde Kämmerer und Hannelore Rothenburg. 2013.
- Michael Lenz, Herkunft Heimat. Eine Lektüre. Zu den Gedichten von Helga M. Novak. In: Helga M. Novak, wo ich jetzt bin. Gedichte. Ausgewählt von Michael Lentz. Frankfurt am Main: Schöffling & Co. 2005, Seiten 213-229.
- Gert Loschütz: "Ich war anders verletzt..." Über Helga M. Novak. Helga M. Novak zum Gedächtnis. Frankfurt am Main: Schöffling & Co. 2014.
- Silvana de Lugnani: Das Sibirien Helga Novaks. In: Prospero [Triest] 1996. Heft 3. Seiten 62-69.
- Silke Scheuermann (Hrsg.): Kann nicht steigen nicht fallen. Helga M. Novaks Liebesgedichte. Frankfurt am Main: Schöffling & Co. 2010, Seiten 135-153.
- Julia Schoch: Lebe abenteuerlich! Helga M. Novak zum Gedächtnis. Frankfurt am Main: Schöffling & Co. 2014.
- Izabela Surynt, So verletzt, so erniedrigt, so elend, so misshandelt, so verwundbar, so ungeschützt. Zur Problematik von Identität und Gewalt im Werk Helga M. Novaks. In: Convivium. Germanistisches Jahrbuch Polen. 2007. Seiten 119-143.
- Izabela Surynt: Leben als Exil. Zum Schaffen von Helga M. Novak. In: Walter Schmitz (Herausgeber), Deutsch-deutsches Literaturexil. Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus der DDR in der Bundesrepublik. Dresden: Thelem 2009. Seiten 173-187.
- Izabela Surynt, Zwischenräume: Helga M. Novaks polnische Phantasien. Leipzig: Universitätsverlag 2011.
- Florian Vaßen, Der Traum vom anderen Leben. Skizzen zu vergessenen Texten. In: die horen. 1996. Heft 1. Seiten 21-31. (Zum Gerrit-Engelke-Preis).
- Claudia Vitale: La Palermo di Helga Novak. In: Il marmo, la fontana, il precipizio. Poesie tedesche sull Italia, a cura di Bernhard Arnold Kruse e Vivetta Vivarelli. Le Lettere 2013, Seiten 286-294.
Autorin: Rita Jorek, 2014