Schuette, Marie (Dr. phil.) - Leipziger Frauenporträts
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Rubrik
- Kunst
geboren/ gestorben
8. Oktober 1878 (Sydney/ Australien) - 30. Dezember 1975 (Überlingen/ Bodensee)
Zitat
"Die Grassimesse ist allmählich und stillschweigend zum Kongress der Kunsthandwerker geworden, wo sich der ernste Arbeiter, der Künstler, mit dem anderen misst, und sie sich gegenseitig steigern."
(Marie Schuette, Rückblick 1942. In: Das Grassibilderbuch des Jahres 1942, Leipzig 1942)
Kurzporträt
Marie Schuette prägte als Kustodin und Leiterin der Textilsammlung das Profil des Kunstgewerbemuseums Leipzig (heute GRASSI Museum für Angewandte Kunst) ganz entscheidend. Mit Engagement und unbestechlichem Urteilsvermögen trug sie wesentlich zur Entwicklung der Grassimesse als internationalen Treffpunkt der Moderne bei.
Herkunftsfamilie
- Vater: deutscher Arzt in Sydney; Name und Lebensdaten nicht zu verifizieren, "früh verstorben"
- Mutter: Vor- und Geburtsname sowie Lebensdaten nicht zu verifizieren, lebte 1936 noch mit der Tochter in der gemeinsamen Wohnung in Leipzig
- Herkunft der Familie: Niedersachsen
- mehrere Geschwister: ein Bruder, geboren 1873, lebte 1962 noch in Wyong, New South Wales, Australien
Biografie
Marie Schuette wurde im australischen Sydney als Tochter eines deutschen Arztes geboren. 1885 kehrte die Familie nach Leipzig zurück. Hier besuchte Marie Schuette die Gymnasialkurse von Dr. Käthe Windscheid, der "Wegbereiterin des Frauenstudiums". 1898 legte sie extern ihr Abitur am Königlichen Gymnasium in Dresden Neustadt ab. Anschließend studierte sie in Freiburg und Berlin Kunstgeschichte bei Adolph Goldschmidt, August Schmarsow und Heinrich Wölfflin, allesamt Koryphäen der deutschen Kunstgeschichte. Als eine der ersten Frauen in Deutschland promovierte Marie Schuette 1903 mit Untersuchungen "Zum Schwäbischen Schnitzaltar" an der philosophischen Fakultät der Königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin zum Dr. phil. Offiziell wurde Frauen an der Berliner Universität ein gültiger Studienabschluss durch eine Promotion erst 1908 gewährt. Die frühe Promotion Marie Schuettes spricht einerseits für das enorme Selbstbewusstsein der jungen Frau, das wohl von ihrer früh verwitweten Mutter im Hinblick auf eine spätere unabhängige Berufstätigkeit gefördert wurde, als auch für ihre hervorragenden Leistungen im Studium.
Ihren beruflichen Werdegang begann sie 1904 in Bonn als Assistentin von Paul Clemen, Provinzialkonservator der Rheinprovinz. Im folgenden Jahr trat sie ein Volontariat, später eine Assistenz am Kunstgewerbemuseum Köln bei Otto von Falke an. Nach Volontariaten am Kupferstichkabinett und der Skulpturensammlung der Berliner Museen stieg sie 1907 zur Direktorialassistentin an den Großherzoglichen Museen und am Goethe-National-Museum Weimar auf.
Ihre Hauptwirkungsstätte fand sie 1910 am damaligen Kunstgewerbemuseum in Leipzig (heute GRASSI Museum für Angewandte Kunst). Während des ersten Weltkriegs und in den 1920er Jahren war sie an der Leitung des Museums maßgeblich beteiligt. Bis zu ihrer Pensionierung 1943 prägte Marie Schuette als Kustodin und Leiterin der Textilsammlung wie auch der Bibliothek an der Seite des Direktors Richard Graul das Profil des Hauses entscheidend mit. Leider erfüllte sich ihr Wunsch, 1929 die Nachfolge Richard Grauls anzutreten, nicht. Dennoch bestimmte sie das Erscheinungsbild und die wissenschaftliche Arbeit des Museums bis zu ihrem Ausscheiden entscheidend mit.
Große Verdienste erwarb sich Marie Schuette nicht nur bei der Einrichtung des neuen Grassimuseums am Johannisplatz (erbaut 1924-1929), sondern vor allem auch durch ihre Publikationen und Ausstellungen zur Stickerei- und Spitzenkunde, die sie als eigenständiges Arbeits- und Forschungsgebiet für die Kunstgeschichte erschloss.
Auch international fand die "Spitzen-Schuette" hohe Wertschätzung. So wurde sie zum Beispiel 1940 zur Vorbereitung der großen Spitzenausstellung in Mailand herangezogen.
Mit Lichtbilder-Vorträgen zur bäuerlichen Kleinkunst und zur deutschen Bauernstube war sie in Leipzig u. a. im Verein für sächsische Volkskunde der Ortsgruppe Leipzig öffentlich tätig. Von ihrem aktiven Engagement für Fragen der Mode sprechen unter anderem ihr vielbeachteter Vortrag "Deutschlands Anteil an dem Modeschaffen der letzten 30 Jahre" anlässlich der Reichstagung der deutschen Damenschneiderei 1934 in Leipzig ebenso wie ihre Teilnahme an den Sitzungen des Sachverständigen-Ausschusses für Damenmode am Deutschen-Modeinstitut e. V. Berlin. Hochgeschätzt waren auch ihre Beiträge zur Deutschen Warenkunde (1941).
Mit Engagement und unbestechlichem Urteilsvermögen für künstlerische Qualität trug sie als Mitglied des Deutschen Werkbundes wesentlich zur Entwicklung der von Richard Graul begründeten legendären Kunstgewerbemessen bei. Als internationaler Treffpunkt der Moderne gingen die Grassimessen in die Geschichte ein und werden vom Museum bis heute mit großem Erfolg fortgeführt.
Bei dem großen Bombenangriff auf Leipzig im Dezember 1943 brannte die Wohnung Marie Schuettes in der Leipziger Königin-Augusta-Straße (heute Richard-Lehmann-Straße) vollständig aus. Nur das Mobiliar konnte gerettet werden. Enttäuscht und persönlich schwer getroffen verließ sie nach 33 Jahren die Stadt ihres Wirkens. In Wien fand sie zunächst ein neues Arbeitsfeld in der Denkmalpflege, übernahm außerdem Arbeiten für die Textilsammlungen in Basel, Zürich und St. Gallen. Um 1945 übersiedelte sie in die Schweiz nach Corona, später nach Sonvico bei Lugano. Nachdem sie dort längere Zeit ohne feste Einkünfte lebte, arbeitete sie um 1956 am Centre International d'Etudes des Textiles Anciens Lyon. Kein Geringerer als der damalige Bundespräsident Theodor Heuss setzte schließlich ihre Pensionsansprüche in Deutschland durch. Ihre rege wissenschaftliche Publikationstätigkeit setzte Marie Schuette bis ins hohe Alter fort.
Am 30. Dezember 1975 vollendete sich in Überlingen am Bodensee, wo sie seit den 1960er Jahren lebte, das Leben einer bedeutenden Wissenschaftlerin und tatkräftigen Museumsfrau. Leipzig und die Kunstgeschichte hat ihr Großes zu verdanken. Ruth Grönwoldt nannte sie zu Recht eine "Pionierin der Wissenschaft" (Ruth Grönwoldt, Marie Schuette. In: Kunstchronik, Oktober 1976, Seite 356-359).
Werke
zahlreiche wissenschaftliche Publikationen, unter anderem:
- Der schwäbische Schnitzaltar. In: Studien zur deutschen Kunstgeschichte, 91. Heft, Straßburg 1907. (Dissertation, 1903).
- Alte Spitzen, Klinkhardt & Biermann, 1. Auflage, Leipzig 1912, vierte Auflage 1963.
- Alte Spitzen (Nadel- und Klöppelspitze. Ein Handbuch für Sammler und Liebhaber), Berlin 1913.
- Spitzenhandbuch, Klinkhardt & Biermann, 1. Auflage, Leipzig 1914, 4. Auflage 1929.
- Gestickte Bildteppiche und Decken des Mittelalters. Hiersemann, Leipzig 1927 und 1930.
- Spitzen von der Renaissance bis zum Empire aus der Sammlung Helene Viehweg-Brockhaus, Leipzig 1939.
- Perserteppiche, 1935.
- Deutsche Wandteppiche, 1935.
- Das Grassibilderbuch des Jahres 1942.
- Das Stickereiwerk (mit Sigrid Müller-Christensen), 1963.
Adressen in Leipzig
- 1917-1943: Kaiserin-Augusta-Straße 69, 3. Etage, Leipzig S 3 (heute Richard-Lehmann-Straße)
Das Gebäude ist im 2. Weltkrieg ausgebrannt und nicht mehr vorhanden.
Zum Weiterlesen/ Literatur/ Quellen
- Bethe, Hellmuth: Marie Schuette zum 70. Geburtstag. In: Zeitschrift für Kunst 2 (1948) 4, Seite 272.
- Grönwoldt, Ruth: Marie Schuette. In: Kunstchronik, Oktober 1976, Seiten 356-359.
- Thormann, Olaf: Marie Schuette. In: Mitteilungen des städtischen Museums des Kunsthandwerks zu Leipzig/Grassimuseum und seines Freundes- und Förderkreises, Heft 2, 1993, Seiten 190-191.
- Paul, Barbara: Die Kunsthistorikern Marie Schuette und die Spitzen- und Stickereikunde. In: Die Spitze 3/95, Seiten 20-22.
- Groth, Katharina und Birgit Müller: Kunstgeschichte um 1900 - ein Vergleich beruflicher Werdegänge. Marie Schuette - Kustodin im Kunstgewerbemuseum Leipzig. Seiten 180-181. In: Bredemann/ Labuda (Herausgeber), In der Mitte Berlins. 200 Jahre Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität. Berlin 2010.
Autorin: Dr. Eva Maria Hoyer, 2017