Ullrich, Johanna Christiane (geborene Klotz) - Leipziger Frauenporträts
Auszug Aufnahmeakte zur Gewinnung des Bürgerrechts; Bescheinigung der Aufnahme Johanna Ullrichs als Schutzverwandte der Stadt Leipzig vom 23. April 1866 © Stadtarchiv Leipzig; WLA AA Nr. 12.065. Bilder vergrößert anzeigen
Rubrik
- Wirtschaft
- Soziales
geboren/ gestorben
28. Februar 1811 (Heynsburg bei Zeitz) - 15. März 1870 (Leipzig)
Zitat
"Die schweren Schicksalsschläge, welche mich im letzten Jahrzehnt wiederholt betroffen, haben mich nun aber derart heruntergebracht, dass ich augenblicklich nicht Standes bin, die Gebühr [...] zu zahlen"
(Zitat aus dem Schutzrechtsantrag von Johanna Chistiane Ullrich vom 20. April 1866. Quelle: Stadtarchiv Leipzig, Aufnahmeakte zur Gewinnung des Bürgerrechts Nummer 12.065.)
Kurzporträt
Johanna Christiane Ullrichs Lebensweg steht stellvertretend für das Schicksal vermögensloser Witwen im 19. Jahrhundert. Obwohl sie nach dem Tod des Ehemanns verzweifelt bemüht war, sich und ihren Kindern eine auskömmliche Existenz zu sichern, konnte sie sozialen Abstieg und Verarmung nicht verhindern, da soziale Sicherungssysteme für Witwen und Waisen sowie Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen weitgehend fehlten.
Herkunftsfamilie
Vater und Mutter unbekannt
Biografie
Johanna Ullrichs Lebensweg ist nur bruchstückhaft aus einer Aufnahmeakte zur Gewinnung des Bürgerrechts im Stadtarchiv Leipzig bekannt. Nach allem, was sich bisher rekonstruieren ließ, nahm ihr Schicksal nach dem Tod ihres Mannes einen dramatischen Verlauf, erfüllt von Konkursen, von Konflikten mit den städtischen Behörden, von Ausweisungen und Abschiebungen.
Sie war am 28. Februar 1811 außerehelich in Heynsburg bei Zeitz geboren worden. Seit 1829 stand sie in Leipzig "in Diensten", das heißt sie war als Dienstmädchen tätig. 1836 erfolgte die Eheschließung mit dem Registrator der Kreisdirektionskanzlei Johann Karl Gottlob Ullrich, einem kleinen Beamten aus Nerchau bei Grimma. Als dieser am 24. Dezember 1849 verstarb, hinterließ er seine Witwe mit sieben unmündigen Kindern.
Ein erstes Bürgerrechtsgesuch von Johanna Ullrich liegt vom Juni 1850 vor. Um sich und ihre Kinder zu ernähren, wollte sie einen kleinen Handel mit Lebensmitteln eröffnen, wozu eine Konzession und die Erlangung des Bürgerrechts erforderlich waren. Wir wissen nicht, wie viel Kapital sie zu diesem Handel besaß und wie sie ihn zu organisieren gedachte. Für einen kleinen Lebensmittelhandel benötigte man in der Mitte des 19. Jahrhunderts geringere Geldmittel als für andere Handelsbranchen und es war nicht notwendig, einen kaufmännischen oder sonstigen Berufsabschluss nachzuweisen.
Während Männer nur dann, wenn sie wenigstens "eigentümliche Barschaften" von 600 Talern vorweisen konnten, das Bürgerrecht als Viktualienhändler erhielten, durften sich Frauen, zumal Witwen, mit weit geringerem Besitz etablieren. Offensichtlich stellte es für die städtische Kommune ein großes Problem dar, hinterlassene, wenig vermögende Frauen und Kinder zu unterstützen, weshalb sie jede nur denkbare Erwerbsarbeit dieser Frauen förderte. Aber nicht immer erwiesen sich die materiellen Voraussetzungen und die vorhandenen Betriebskenntnisse als ausreichend für eine erfolgreiche Geschäftstätigkeit. Ebenso schnell, wie mancher kleine Handel entstand, musste er wieder geschlossen werden. Das Bürgerrecht ist Johanna Ullrich am 6. Dezember 1850 erteilt worden. Leider lässt sich den Akten nicht entnehmen, wie lange sie ihren Lebensmittelhandel tatsächlich betrieb.
1853 wurde sie erneut aktenkundig. Sie war "wegen unsittlichen Lebenswandels ihrer Tochter Anna Therese bedeutet worden" und musste die Stadt verlassen. Nun lebte sie mit ihrer Familie ein Jahr lang im damals noch nicht eingemeindeten Neuschönefeld bei Leipzig, zog dann jedoch heimlich in die Stadt zurück. Doch ihre Hoffnungen auf eine auskömmliche Existenz erfüllten sich nicht - 1855 wurde sie "wegen Bettelns zu dreitägiger Gefängnisstrafe verurteilt und mit Wegweisung bedroht". Um der Ausweisung zu entgehen, versuchte sie am 24. November 1855 noch einmal das Bürgerrecht als Viktualienhändlerin zu erlangen, wurde jedoch abfällig beschieden. Daraufhin stellte Johanna Ullrich am 23. Januar 1856 einen Antrag auf Schutzverwandtschaft. Sie gab nun an, sich und die Ihren durch das Anfertigen und den Verkauf wohlriechender Öle erhalten zu wollen. Aber auch dieses Gesuch ist nicht bewilligt worden. Sie erhielt die Auflage, mit ihrer Familie binnen 14 Tagen die Stadt zu verlassen "bei Vermeidung der Verhaftung und des Transports". Deutlich wird hier ein rigider Umgang der Stadtverwaltung mit armen Menschen, denen die Stadt Leipzig kein Bleiberecht zugestand.
Bis 1861 lebte die Familie nun in Nerchau, wo der verstorbene Ehemann als "heimatzugehörig" galt und seinen Angehörigen dem geltenden Armenrecht zufolge eine Unterstützung gewährt werden musste. Doch die Ullrichs zog es zurück nach Leipzig; in der stark wachsenden, wirtschaftlich prosperierenden Stadt erhofften sie sich wohl eher eine wirtschaftliche Zukunft als im kleinen Nerchau. Seit 1861 lebten sie zunächst in Anger bei Leipzig. Einen letzten Versuch, in Leipzig Fuß zu fassen, unternahm Johanna Ullrich am 20. April 1866. Sie beantragte erneut das Schutzrecht, jetzt als Handarbeiterin. Diesmal wurde ihr Antrag nicht abgelehnt. Die Schutzgebühr vermochte sie nur in Raten abzuzahlen. So erkaufte sie das Recht, mit ihren Kindern in der Stadt, die deren Heimatstadt war, leben zu dürfen. Einer letzten Notiz zufolge ist Johanna Ullrich mit 59 Jahren am 15. März 1870 verstorben.
Ihr Lebensweg verdeutlicht beispielhaft die dramatischen Auswirkungen eines fehlenden staatlichen Sicherungssystems für Witwen und Waisen in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Er lässt zudem die besondere Perspektivlosigkeit von Frauen erkennen, denen es bis weit ins 19. Jahrhundert hinein an Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten fehlte. Waren sie gezwungen, zur Sicherung der Existenz eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen, konnten sie nur Tätigkeiten ausüben, zu denen keine besonderen Qualifikationen oder formalen Berufsabschlüsse erforderlich waren. Zumeist war gerade in diesen Bereichen die Konkurrenz groß und nur ein geringes Einkommen zu erzielen - Verarmung erscheint als logische Folge.
Adressen in Leipzig
- Juni 1850: Mittelstraße Nummer 5
- Dezember 1850: Ullrichsgasse 64
- April 1866: Antonstraße 14
Zum Weiterlesen/ Literatur/ Quellen
- Susanne Schötz, Kapitel 4: Frauen in den prosperierenden Händlergruppen des 19. Jahrhunderts, in: Dies., Handelsfrauen in Leipzig. Zur Geschichte von Arbeit und Geschlecht in der Neuzeit, Köln/ Weimar/ Wien 2004, Seiten 313-392.
Autorin: Susanne Schötz, 2015