von Koerber, Lenka (geborene von der Leyen) - Leipziger Frauenporträts
Lenka von Koerber © Leipziger Städtische Bibliotheken, Stadtbibliothek, Literaturarchiv, Foto-Reproduktion: Günter Prust, Berlin Bilder vergrößert anzeigen
Rubrik
- Literatur
- Soziales
- Frauenbewegung
geboren/ gestorben
16. März 1888 (Niedeck, Westpreußen) - 21. Juli 1958 (Leipzig)
Zitat
"In unseren Händen ruht die Verantwortung für unsere schwächeren Mitmenschen, wir dürfen nicht gedankenlos verurteilen, wir müssen tatkräftig helfen [...]" (1928)
Kurzporträt
Die streitbare Humanistin und Demokratin Lenka von Koerber gehörte zu den ersten Frauen in Deutschland, die ab 1922 als Schöffen und Geschworene eingesetzt wurden. Sie befasste sich intensiv mit dem Strafvollzug, engagierte sich für die Resozialisierung ehemaliger Krimineller und publizierte darüber sozialkritische Artikel und Bücher.
Herkunftsfamilie
- Vater: Werner Adolf von der Leyen (1845-1920)
- Mutter: Hildegard Helene von der Leyen, geborene Hermes (1857-1917)
- Geschwister:
- Hildegard Else von der Leyen (1879-1887)
- Elisabeth Helene von der Leyen (1884-1924)
- Reinhard Werner von der Leyen (1881-1914)
Biografie
Helene (Lenka) Irmgard von der Leyen wurde in einer Rittergutsfamilie in Niedeck, Westpreußen geboren. Über ihren frühen Lebensweg gibt es nur sehr spärliche Informationen und diese stets aus dem Blickwinkel der Journalistin und Schriftstellerin, die angesichts der Konfrontation mit Straftätern an ihre Kindheit und Jugend zurückdenkt, wie zum Beispiel an die Beobachtung von Gefangenen des Zuchthauses Graudenz. Dort hatte sie nach Jahren des Unterrichts bei Privatlehrern die Höhere Töchterschule besucht. Ab 1911 studierte sie kurze Zeit in Berlin Malerei und weilte 1912 und 1914 zu Studienaufenthalten in England.
1914 heiratete sie Egbert von Koerber (1891-1916), Gutsbesitzersohn aus Ostpreußen, mit dem sie nach London übersiedelte, aber nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges nach Deutschland zurückkehrte. Ihr Mann fiel im August 1916 in der Schlacht an der Somme.
Als Witwe zog sie mit dem 1914 geborenen Sohn Heribert nach Leipzig und begann nach dem Ende des Krieges als Journalistin für die "Frankfurter Zeitung" und andere Blätter zu schreiben und sich gleichzeitig aktiv gesellschaftspolitisch zu betätigen. So wirkte sie in Schulausschüssen und "kämpfte in der Öffentlichkeit für eine weltliche Schule", wie sie selbst schrieb. Lenka von Koerber trat der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) kurz nach ihrer Gründung bei und brachte sich auf dem sozialliberalen linken Flügel ein. Als Delegierte zum Parteitag und Teilnehmerin der Frauenkonferenz im Juli 1919 brachte sie ihre Erfahrungen aus der Leipziger DDP hinsichtlich des Fraueneinflusses ein.
Sie unterstützte außerdem die Schaffung gesetzlicher Grundlagen für das "Lichtbildwesen", besonders hinsichtlich des Jugendschutzes. In den später errichteten staatlichen Filmprüfstellen der Weimarer Republik wirkten dann Beisitzerinnen des Bundes Deutscher Frauenvereine (BDF) wie Dr. Erna Corte, Dr. Else Ulich-Beil und Dr. Gustava Rath. 1921 wurde Lenka von Koerber in den Reichsparteivorstand der DDP gewählt, dem sie nach periodischer Wiederwahl auf den Parteitagen bis 1930 angehörte.
Ab Herbst 1922 war sie als eine der ersten weiblichen Geschworenen und Schöffen in Deutschland nach deren gesetzlicher Zulassung als Laienrichterin tätig und wurde dabei mit dem Sinn und Ablauf des Strafvollzugs konfrontiert. Als verantwortungsbewusste Schöffin und Geschworene erwirkte Lenka von Koerber in sechs Landesgefängnissen in Hamburg, Sachsen und Bayern die Erlaubnis zu "informatorischen Dienstleistungen". Seit Mitte der 1920er Jahre ging sie jährlich für vier bis fünf Wochen in Strafanstalten, arbeitete ehrenamtlich als Wärterin und führte Analysen durch. Für einige ehemalige Gefangene übernahm sie sogar die "Schutzaufsicht" nach deren Entlassung. Das Thema Strafvollzug und die Wiedereingliederung Strafentlassener hatte von da an Lenka von Koerber "gefangen genommen", bot ihr aber zugleich ein Spezialgebiet, das sie als Journalistin, Publizistin, Frauenpolitikerin und spätere Schriftstellerin wie keine Zweite beherrschte. So hielt sie zum Beispiel 1926 Honorarvorträge darüber im Leipziger Lehrerverein und im Stadtbund der Leipziger Frauenvereine.
Mit den 1928 und 1930 erschienenen Büchern "Erlebnisse unter Strafgefangenen" (Titelbild von Käthe Kollwitz, mit der sie später freundschaftlich verkehrte) und "Menschen im Zuchthaus" etablierte sie sich endgültig mit diesem Thema als Publizistin. Auslandsreisen nach Italien, Ägypten, Palästina und Österreich dienten ihr als journalistische Quelle und für ihren Einsatz zur Frauenemanzipation. 1926 war sie eine der deutschen Delegierten des "Weltbundes für Frauenstimmrecht und Staatsbürgerliche Frauenarbeit" in Paris. Die Verbindungen in der Frauenbewegung konnte sie wiederum für die Unterbringung von Artikeln sowie zu Vorträgen nutzen.
Ihre siebenmonatige Reise durch Sowjetrussland von Juni bis Dezember 1932 mit dem Besuch von Gefängnissen und Arbeitslagern war eine Sensation und kam nur durch die Fürsprache und Unterstützung von Clara Zetkin zu Stande. Über den in Leipzig lebenden Bruder Clara Zetkins Arthur Eißner, einen DDP-Mitstreiter Lenka von Koerbers, wurde der Kontakt geknüpft. In Moskau half ihr unter anderem der führende deutsche Kommunist und spätere Präsident der DDR Wilhelm Pieck. Das aus der Reise resultierende Buch "Sowjetrußland kämpft gegen das Verbrechen" fand großen Anklang, auch wenn sich aus heutiger Sicht eine Reihe von Fragen im Zusammenhang mit den Anfängen des GULAG-Systems stellen. Als Besonderheit muss dabei erwähnt werden, dass der Hamburger Verleger Ernst Rowohlt mutig das Buch noch im Juni 1933 in Deutschland herausbrachte. Im Jahr darauf verbot das NS-Regime alle bisher erschienenen Bücher Lenka von Koerbers. Im Frühjahr 1934 wurde sie wegen des "Verdachts auf staatsfeindliche Propaganda im Ausland" drei Wochen von der Gestapo inhaftiert und später weiter beobachtet. Ihren Lebensunterhalt verdiente sie sich von 1933 bis 1945 sehr mühsam vor allem als Bildberichterstatterin mit Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln über Zoo, Varieté, Zirkus und Ballett.
Nach 1945 engagierte sich Lenka von Koerber politisch als Vorsitzende der Antifaschistischen Frauenarbeitsgemeinschaft in Leipzig und ab März 1947 - ohne herausgehobene Funktion - im Demokratischen Frauenbund Deutschlands (DFD). Es ist möglich, dass Lenka von Koerber eine politische Karriere verwehrt wurde, weil ihr Sohn als Journalist in die Amerikanische Besatzungszone gegangen war, oder dass sie selbst eine zu starke politische Vereinnahmung vermeiden wollte. Eindeutig waren hingegen ihr aktiver Einsatz für die schonungslose Aufarbeitung der Verbrechen der Nazizeit und der Kampf gegen den Antisemitismus. Auf dem Ersten Deutschen Schriftstellerkongress im Oktober 1947 in Berlin sagte sie unter anderem: "Ich kämpfe seit 1918 gegen den Antisemitismus [...]. Die Jugend ist mit diesem tropfenweisen Gift derartig verseucht worden, mit diesen Lügen und Unwahrhaftigkeiten, daß sie für alle anderen Lügen gleichzeitig aufgeschlossen war [...] dieses schleichende Gift [...] ist auch heute noch eine unendliche Gefahr."
In der Nachkriegszeit arbeitete Lenka von Koerber für die Presse wie "Zeit im Bild", "Für Dich", hielt Vorträge und arbeitete an einem Buch über straffällig gewordene Jugendliche, dessen Erscheinen wiederholt durch einen "kultureller Beirat" verzögert wurde. Schließlich konnte das Buch "Verirrte Jugend" 1952 in der DDR und 1955 in Hamburg bei Rowohlt erscheinen. Aus dieser Erfahrung heraus verlegte sich Lenka von Koerber stärker auf Kultur- und Kunstthemen, schrieb zum Beispiel ein Buch über den Thomanerchor (1954). In ihrem letzten Buch "Erlebtes mit Käthe Kollwitz" (1957) verwob sie ihre eigene Lebensgeschichte mit dem Schicksal der Künstlerin.
Im Juni 1953 nahm sie sich der fehlenden Krippen- und Kindergartenplätze bei den Leipziger Verkehrsbetrieben an und warnte: "Einerseits die Berufsarbeit der Frau zu propagieren, andererseits die Fürsorge für ihre Kinder zu ignorieren, wird in der Zukunft zu Mißständen führen, die schwerwiegend werden können."
Bei aller ihr nachgesagter Unbequemlichkeit, dem Temperament und der Hartnäckigkeit in der Sache sowie ihrem bürgerlichen Auftreten und Lebensstil war Lenka von Koerber mit ihrer über Jahrzehnte entwickelten humanistischen, demokratischen, antifaschistischen und frauenemanzipatorischen Position fest in Leipzig verwurzelt. Dafür wurde sie zum 70. Geburtstag unter anderem als "streitbare Humanistin" von Kulturminister Johannes R. Becher gewürdigt. Ihr Tod wenige Monate später, am 21. Juli 1958, war dem "Neuen Deutschland", Zentralorgan der SED, jedoch nur 22 Worte wert.
Werke
- Erlebnisse unter Strafgefangenen, Stuttgart 1928.
- Menschen im Zuchthaus, Frankfurt am Main 1930.
- Sowjetrußland kämpft gegen das Verbrechen, Berlin 1933 (englische, polnische und russische Übersetzungen 1933/34 erschienen).
- Verirrte Jugend, Berlin 1952 (2. Auflage 1952 und [West]Auflage 1955 in Reinbek bei Hamburg).
- Wir singen Bach: Der Thomanerchor und sein Kantor, Berlin 1954 (auch 1957 mit Verlagsort Leipzig und Jena sowie [West]Ausgabe und der Teil: Der Thomanerchor und sein Kantor, Hamburg-Volksdorf 1954).
- Agnes geht den schmalen Weg, Schwerin 1956 (2. Auflage 1959).
- Erlebtes mit Käthe Kollwitz, Berlin 1957 (2. Auflage 1959 und [West]Auflage 1961 in Darmstadt; ungarische Ausgabe: Budapest 1959).
Beispiele von Veröffentlichungen Lenka von Koerbers in Zeitungen und Zeitschriften:
- Elsa Brändström und ihr Werk, in: Die Frau. Organ des Bundes Deutscher Frauenvereine.
- Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit. Begründet von Helene Lange, herausgegeben von Gertrud Bäumer, 34. Jahrgang 1926/27, Seiten 424-426.
- Wiedersehen im Zuchthaus, in: Frankfurter Zeitung, 73. Jahrgang, Nummer 176, (07.03.1929), Seiten 1-2.
- Private Mitarbeit im Strafvollzug, in: Die Frau, 38. Jahrgang, 1930/31, Seiten 477-482.
- Der Thomanerchor, in: Aufbau, Berlin, 6. Jahrgang (1950), Heft 7, Seiten 609-610.
- Ein Jugendgericht erzieht, in: Aufbau, Berlin, 7. Jahrgang (1951) Heft 7, Seiten 659-661.
- Gericht und Sensation, in: Aufbau, Berlin 7. Jahrgang (1951) Heft 11, Seiten 1052-1053.
Adressen in Leipzig
- 1916-1958: in Leipzig-Gohlis, Menckestraße 3
Zum Weiterlesen/ Literatur/ Quellen
- Frauentagung der Deutschen demokratischen [sic!] Partei im Oberlichtsaal der Philharmonie zu Berlin am 18. Und 19. Juli 1919, Berlin 1919.
- Götze, Dieter: Lenka von Koerber, in: Ossietzky. Zweiwochenschrift für Politik/ Kultur/ Wirtschaft, 2008, Heft 11, Seiten 412-414.
- Hildebrandt, Irma: Freiheit, Gleichheit, Menschlichkeit. Die Bewährungshelferin und Publizistin Lenka von Koerber (1888 -1958), in: Provokationen zum Tee. 18 Leipziger Frauenporträts, München 1998, Seiten 175-195.
- Kiehl, Ulrich: Die Literatur im Bezirk Leipzig 1945 - 1990. Eine Bibliographie der Bücher und Zeitschriften, Wiesbaden 2002 (Bibliographien: Buch Bibliothek Literatur, Band 4), Seiten 14 und folgende, 17, 335-337).
- Kraus, Gerlinde: Zum Gedenken. 1958: Lenka von Koerber. Journalistin und Schriftstellerin, in: Mitteldeutsches Jahrbuch für Kultur und Geschichte Band 15. Herausgegeben für die Stiftung Mitteldeutscher Kulturrat von Harro Kieser und Gerlinde Schlenker, Dößel 2009 , Seiten 177-181
- Künne, Manfred: Reifejahre. Roman, Leipzig 1976, Seiten 9-10; 81 und 83.
- [ungezählte Notiz] Lenka von Koerber verschieden, in: Neues Deutschland, Zentralorgan der SED, Berlin von 26.07.1958.
- Linksliberalismus in der Weimarer Republik. Die Führungsgremien der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Staatspartei 1918-1933, eingeleitet von Lothar Albertin. bearbeitet von Konstanze Wegner in Verbindung mit Lothar Albertin, Düsseldorf 1980.
- Leipziger Städtische Bibliotheken: Literaturarchiv, Lenka von Koerber
- Stadtarchiv Dresden: Stadtbund Dresdner Frauenvereine Nummer 5, Bl. 197 und 197 RS
- www.17juni53.de, abgerufen 08.09.2015 (Bundeszentrale für politische Bildung, enthält unter anderem Material aus dem Archiv des Deutschen Schriftstellerverbandes "Stellungnahmen und Berichte zum 17. Juni 1953")
Autor: Dr. phil. Heiner Thurm, 2015