Windscheid, Charlotte (geborene Pochhammer) - Leipziger Frauenporträts
Altersfoto von Charlotte Windscheid © Stadtgeschichtliches Museum Bilder vergrößert anzeigen
Rubrik
- Kunst
- Frauenbewegung
- Soziales
geboren/ gestorben
21. November 1830 (Berlin) - 9. Juli 1918 (Leipzig)
Zitat
"[...] wir wollen den Kindern die Heimat ersetzen, sie ihnen lieb machen, ihnen die Freude und Lust an der Arbeit, wie am Spiel erschließen."
(Lotte Windscheid, Vorstandsbericht Mädchenhorte in Leipzig, 1902)
Kurzporträt
Lotte Windscheid wirkte jahrzehntelang als erfolgreiche Initiatorin und Leiterin von Projekten und Vereinen in Leipzig, unter anderem zur Schaffung von Mädchenhorten, einer Volkshaushaltungsschule und des Vereins der Künstlerinnen sowie als Mitvorstand im Schillerverband deutscher Frauen. Sie forderte und förderte die Professionalisierung sozialer Hilfsarbeit.
Herkunftsfamilie
- Vater: Adolf Georg Theodor Pochhammer (21.02.1796 in Berlin - nach 1854 in Berlin), Geheimer Oberfinanzrat und Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses
- Mutter: Auguste Bertha Gottliebe Pochhammer, geborene Graefe (verstorben in Halle/Saale)
Biografie
Auguste Eleanore Charlotte, genannt Lotte, wurde nachweisbar am 21. November 1830 in Berlin geboren (dieses Datum war bisher unbekannt). Ihr Vater, evangelisch-reformierter Konfession, war in seiner Jugend 1813 bis 1815 im Kampf gegen Napoleonische Truppen bei den Freiwilligen Jägern und stieg als fähiger Beamter für Steuer- und Zollangelegenheiten im preußischen Staatsdienst bis zum Geheimen Oberfinanzrat auf, bevor er 1848 in den Ruhestand trat und dann als Abgeordneter wirkte. Als Angehöriger der Funktionselite vertrat er Preußen auf den Generalkonferenzen des Deutschen Zollvereins bis 1846 und war preußischer Kommissar für die Elbeschifffahrt.
Zur Mutter und dem eigenen Lebensweg von Lotte vor der Heirat mit Prof. Dr. Josef Hubert Bernhard Windscheid (1817-1892), einem angesehen Juristen, den sie 1857 in München im Hause des Schriftstellers Paul Heyse kennenlernte, gibt es kaum Informationen, außer dass Lotte nach München ging und Malstudien betrieb. Die Hochzeit mit dem an der dortigen Universität lehrenden Professor fand aber am 4. November 1858 in Halle/ Saale statt, was darauf hindeutet, dass die Familie der Braut in dieser Zeit hier wohnte.
Der weitere Lebensweg Lotte Windscheids als Professorengattin und Mutter schien vorgeprägt. Zunächst lebte die junge Familie in München, wo ihre vier Kinder geboren wurden: Charlotte Friederike Auguste Katharina (Käthe) am 28.08.1859 (gestorben 11.03.1943 in Leipzig), Franz Bernhard Adolf Ferdinand am 17.05.1862 (gestorben 16.12.1910 in Leipzig) und am 19.10.1864 die Zwillinge Charlotte (Lotte, gestorben 16.04.1938 in Göttingen) und Margaretha Frederike Auguste (Grete, gestorben 11.03.1936 in Göttingen). 1871 zog Familie Windscheid nach Heidelberg und 1874 nach Leipzig, jeweils der Berufung des Vaters auf eine renommierte akademische Position folgend.
Hier begann Lotte, soziale und künstlerische Frauenvereine zu initiieren und sich darin aktiv zu betätigen - im Unterschied zu anderen Akademikergattinnen, die sich mit Almosengeben, Bällen, Konversation und dem Konsumieren von Kunst zufrieden gaben. Ihre Kinder wusste sie in materiell gut gesicherten Verhältnissen. Im Unterschied zum Sohn Franz, der später ein bekannter Neurologe in Leipzig wurde und zum Beispiel Elsa Asenijeff behandelte, hatten die begabten Töchter mit gesellschaftlich bedingten Bildungsschranken zu kämpfen. Der Ältesten - Käthe - gelang durch Fürsprachen des Vaters in Heidelberg als erster Frau in Deutschland 1894 die Promotion zum "Dr. phil.". Die jüngeren Zwillingsschwestern heirateten "standesgemäß": Lotte ging mit dem Juristen Doktor Paul Oertmann nach Heidelberg, Grete mit dem Nationalökonomen und Bankier Doktor Friedrich Bendixen nach Hamburg.
Die Sicherheit ihrer Töchter im Kontrast zu Beobachtungen auf Leipzigs Straßen 1886 mündete bei Lotte Windscheid 1887 in die Gründung des Vereins für Mädchenhorte zur Betreuung von sonst aufsichtlosen, "dem Straßenleben überlassenen" Mädchen aus Volksschulen. Als Vorstandsvorsitzende des Vereins verstand Lotte Windscheid es über Jahrzehnte hinweg erfolgreich, Mittel unter anderem aus der Leipziger "Stiftung eines Menschenfreundes", durch Basare und Spenden zu akquirieren sowie die Lehrer/-innen und die Öffentlichkeit für die Mädchenhorte einzunehmen. Vom Allgemeinen Deutschen Frauenverein (ADF) bekam sie ebenso Unterstützung zugunsten ihrer Projekte wie vom Frauengewerbeverein. Im Gegenzug hielt sie Vorträge zur Thematik und stellte Teile ihrer Privatwohnung für die von Tochter Käthe ab 1894 geleiteten Gymnasialkurse des ADF zur Verfügung. Lotte Windscheid wurde sogar im September 1894 als Vorstandsmitglied der Leipziger Ortsgruppe des ADF vorgeschlagen, lehnte aber wegen Überlastung ab.
Als Frau "Geheimrat", deren Mann seit 1892 Ehrenbürger Leipzigs war, fiel ihr die Kontaktfindung zu einflussreichen Kreisen nicht schwer. Schon im Februar 1888 hatte die sächsische Königin Carola den ersten Mädchenhort besucht und den Verein gewürdigt. Lotte Windscheids besonderes Engagement führte bis 1894 zur Errichtung von drei Mädchenhorten: in der Scharnhorststraße 2, Alexanderstraße 35/37 und Nürnberger-/Glockenstraße. Mit berechtigtem Stolz verwies sie im Juli 1898 in einem Förderantrag an die Stadt Leipzig darauf, dass in Hamburg nach ihrem Leipziger Muster schon 13 Mädchenhorte geschaffen worden waren. Dennoch wurde die städtische finanzielle Unterstützung dringend benötigt. In Leipzig gelang es dann bis 1918, auch 13 Mädchenhorte vornehmlich in Wohngegenden mit hohem Fabrikarbeiteranteil wie zum Beispiel Plagwitz zu gründen. Im Hort erledigten die Mädchen Hausaufgaben, spielten, bastelten und wurden mit Milch und warmen Mittagessen für geringes Geld versorgt. Im Bericht des Vereins für das Jahr 1913 sind zum Beispiel 12.000 Mittagsportionen belegt! Während die Knabenhorte voll städtisch finanziert wurden, erübrigte der Rat der Stadt für die Mädchenhorte lediglich Mietfreiheit, Energiekosten und einen gewissen Personalkostenzuschuss - der Verein für Mädchenhorte musste weiterhin Mittel sammeln und Helferinnen gewinnen. Auf die Einbindung von bezahltem Fachpersonal und Betreuungsqualität legte Lotte Windscheid großen Wert. Deswegen widersprach sie in den Jahren 1914 bis 1918 der Errichtung sogenannter provisorischer "Kriegskinderhorte" und es gelang ihr in dieser Zeit trotzdem, zwei weitere Mädchenhorte zu schaffen.
Lotte Windscheid eröffnete am 1. November 1891 mit der Volkshaushaltungsschule Leipzig-Reudnitz, Mühlstraße 14, ihr zweites soziales Vorhaben, um die "Töchter des Arbeiterstandes" auf das "Wirtschaftsführen" vorzubereiten. Damit nahm sie wieder eine Vorreiterrolle ein: Mitte 1893 gab es in ganz Deutschland erst ein Dutzend solcher Schulen. Die Absolventinnen ihrer Kurse wurden zwar wegen ihrer guten Leistungen beim sparsamen Wirtschaften, Kochen, Reinigen, Bügeln, Ausbesserungsarbeiten an der Wäsche auch gern als Dienstboten eingestellt, die Ausrichtung der Ausbildung zielte aber hauptsächlich auf die Verbesserung der Haushaltsführung in Arbeiterfamilien und korrespondierte so mit dem Projekt der Mädchenhorte. Synergieeffekte wurden bewusst angestrebt, indem die Kursteilnehmerinnen der Haushaltungsschule Dienstleistungen für die Mädchenhorte erbrachten. Für die Volkshaushaltungsschule Leipzig-Reudnitz wurde sogar ein eigenes "Kochbüchlein" von Lotte Windscheid herausgegeben, das sich wesentlich von den Gerichten der gut-bürgerlichen Küche abhob.
Lotte Windscheids drittes größeres Projekt wurde die Gründung des "Vereins der Künstlerinnen und Kunstfreundinnen" Leipzigs 1896, in dem sie auch den Vorsitz übernahm. Zweck des Vereins waren die Förderung der Selbstorganisation und Qualifizierung von Malerinnen und bildenden Künstlerinnen sowie die Förderung der Kunst und kunstgewerblichen Erwerbstätigkeit unter den Frauen. Die ehemalige Malerin Lotte Windscheid holte sich mit der anerkannten Malerin Philippine Wolff-Arndt eine prominente Stellvertreterin in den Vereinsvorstand. Dessen Schwerpunkte waren die Organisation von Ausstellungen und der Verkauf von Kunst und kunstgewerblichen Erzeugnissen im eigenen Laden des Vereins im Salzgäßchen 7 sowie die Einrichtung von Unterrichtskursen bei renommierten Leipziger Künstlern und Akademielehrern wie Carl Seffner, Mathieu Molitor, Walter Tiemann, Otto Bossert, Horst Schulze und andere.
Über Leipzig hinaus wirkte Lotte Windscheid im "Schillerverband deutscher Frauen" als stellvertretende Vorsitzende des "Centralvorstandes" neben der Leipziger Initiatorin Frida Brasch und Henriette Goldschmidt als Ehrenvorsitzender sowie ihrer Tochter Dr. Käthe Windscheid. In Vorbereitung auf den 100. Todestag Friedrich Schillers sollten von 1901 bis 1905 durch "Frauenhilfe der Schillerstiftung neue Mittel" zugeführt werden, damit diese bedürftige Schriftstellerinnen und Schriftsteller beziehungsweise deren Angehörige besser materiell unterstützen konnte. Lotte Windscheid sorgte maßgeblich mit dafür, dass die Leipziger Ortsgruppe das höchste Sammelergebnis erzielte: 22.363 Mark bis April 1905, von insgesamt 250.000 Mark deutschlandweit. Lotte Windscheids Engagement trug maßgeblich zur Professionalisierung der sozialen Hilfsarbeit und der Weiterentwicklung von privater Wohltätigkeit zur Sozialfürsorge in Leipzig bei. Neben "ihren" Vereinen wirkte sie in mehreren anderen mit, so im Leipziger Verein der Kinderfreunde (Kinderschutz), später in der "Leipziger Zentrale für Jugendfürsorge".
Hochangesehen starb sie am 9. Juli 1918 und wurde in der Grabstätte ihres Mannes auf dem Neuen Johannisfriedhof, Nummer 106 der Universitätsgrabstellen, Fünfte Abteilung beigesetzt. Ihr Wirken hatte zur Einführung des Haushaltunterrichtes an städtischen Schulen beigetragen. Die Mädchenhorte wurden 1921 in städtische Verwaltung überführt und endlich voll finanziert. Die 1919 im Umfeld des Vereins für Mädchenhorte gegründete Lotte-Windscheid-Stiftung ermöglichte zeitweise, dass Volksschülerinnen Ferienaufenthalte in Kindererholungsheimen erleben konnten. 1930 wurde anlässlich des 100. Geburtstages ihr Lebenswerk letztmalig in der Presse gewürdigt. Danach nahm die Öffentlichkeit Lotte Windscheid lange Zeit - wenn überhaupt - nur als Mutter von Dr. Käthe Windscheid zur Kenntnis.
Werke
- Die Volkshaushaltungsschule in Leipzig, in: Die Gartenlaube 1893, Heft 14, Seite 230.
- Jahresberichte des Vorstandes des Vereins der Mädchenhorte in Leipzig, in: Stadtarchiv Leipzig, Kapitel 35, Acta den III. Mädchenhort betreff: Frau Geh. Lotte Windscheid.
- Kochbüchlein für Schülerinnen der Volkshaushaltungsschule in Leipzig-Reudnitz, Mühlstraße 14 Leipzig, ohne Jahrgang [um 1914/15], Vorrede von Lotte Windscheid, Vorsitzende des Vorstandes der Volkshaltungsschule Leipzig-Reudnitz.
Adressen in Leipzig
- 1874-1918 Parkstraße 11, 2. Etage (später Richard-Wagner-Straße 1; Das Haus steht nicht mehr.)
Zum Weiterlesen/ Literatur/ Quellen
- Adreßbuch für die Frauen Leipzigs. Ein Verzeichnis der für sie vorhandenen Wohlfahrts- und Bildungseinrichtungen zusammengestellt von dem Leipziger Komitee zur Errichtung von Auskunftsstellen für Frauen, Leipzig 1900.
- Leipziger Ortsgruppe des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, in: Neue Bahnen, 1894, Heft 12, Seiten 177-178.
- Lotte Windscheid zum 70. Geburtstag, in: Neue Bahnen, 1900, Heft 23, Seite 179.
- Der Schillerverband deutscher Frauen und die Gründung der Ortsgruppe Leipzig, in: Neue Bahnen, 1901, Heft 24, Seiten 199-201.
- Wolf-Arndt, Philippine: Frau Lotte Windscheid zum 80. Geburtstag, in: Leipziger Tageblatt, 20. November 1910.
- Familien-Nachrichten: Todesanzeigen von Lotte Windscheid, in: Leipziger Tageblatt, Beilage, 10. Juli 1918.
- Zum 100. Geburtstag Lotte Windscheids, in: Leipziger Neueste Nachrichten, 21. November1930.
- Wolff-Arndt, Philippine: Wir Frauen von einst: Erinnerungen einer Malerin, München 1929.
- Kreutzmann, Marko: Die höheren Beamten des Deutschen Zollvereines, Göttingen 2012 [Angaben zum Vater Lotte Windscheids Seiten 278-279].
- Schwabach-Albrecht, Susanne: Die Deutsche Schillerstiftung 1909-45, in: Archiv für die Geschichte des Buchwesens, Band 55, Frankfurt am Main 2001, Seiten 55-59.
- Stadtarchiv Leipzig: Kapitel 35, Nummer 556 (Acta, den III. Mädchenhort betreffs, ergangen von dem Rathe der Stadt Leipzig 1898); Schulamt 239 (Acta Schillerfeier betreffs Schillerverband Deutsche Frauen); 1190 (Akten Mädchenhorte , Band 1 Allgemein 1914 -1923); 1191 (Akten Mädchenhorte, Allgemein 1924-1930); 1736 (Akten die Lotte-Windscheid-Stiftung für die Mädchenhorte betreffs 1921-1928) und 1800 (Acta, Fortbildungsunterricht für kaufmännische Gehilfinnen); Friedhofsamt 1018 (Neuer Johannis-Friedhof, Fünfte Abteilung 106-110).
- Stadtgeschichtliches Museum Leipzig: Fotos, Briefe und Zeitungsausschnitte von beziehungsweise über Lotte Windscheid (per Online-Datenbank zum Teil einsehbar).
Autor: Dr. Manfred Leyh, 2015