Seiffert, Alice (geborene Cohn) - Leipziger Frauenporträts
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Rubrik
- Literatur
- Verfolgte/ Opfer des NS
geboren/ gestorben
26. August 1897 (Leipzig) - 17. März 1976 (Leipzig)
Zitat
"Die subtile Beschäftigung mit erlauchten Geistern hat Sie in Ihrer Übersetzungskunst jung, zart, treffsicher und doch natürlich erhalten."
(Rudolf Marx, Geschäftsleitung der Dieterich'schen Verlagsbuchhandlung Leipzig, im Glückwunschschreiben zum 70. Geburtstag von Alice Seiffert 1967)
Kurzporträt
Alice Seiffert publizierte vor 1933 als Schriftstellerin und Journalistin, erhielt in der NS-Zeit als Jüdin Berufsverbot und kam im Februar 1945 ins KZ Theresienstadt. Nach Leipzig zurückgekehrt wurde sie eine preisgekrönte Übersetzerin französischer, englischer und amerikanischer Weltliteratur.
Herkunftsfamilie
- Vater: David Theodor Cohn (31.08.1857 Eilenburg - 09.12.1927 Leipzig), Kaufmann (Leinen- und Baumwollwaren-Großhandlung), Sohn des Kaufmanns Simon Meyer Cohn (10.08.1827 Pinne, preußische Provinz Posen - 21.05.1909 Leipzig)
- Mutter: Gertrud, geborene Prochownik (18.05.1872 Zirke, preußische Provinz Posen - 18.10.1942 KZ Theresienstadt)
- Bruder: Alfred Cohn (07.09.1894 Leipzig - gestorben zwischen 15.02. und 12.03.1954 Hamadan, Iran) Arzt; Emigration in den Iran; verheiratet mit Else Cohn (? - 02.06.1965 Teheran)
Der bisher als vermeintlicher Bruder in der Literatur beziehungsweise in den Erläuterungen zum Nachlass genannte Dr. Kurt Cohn (19.07.1899 Glogau -21.02.1987 Ostberlin) war ein Cousin, der Sohn ihres Onkels Adolph Cohn (18.02.1864 Eilenburg - ?). Dr. Kurt Cohn war im Vorstand der Berliner Jüdischen Gemeinde und bedeutender DDR-Funktionsträger - unter anderem Oberrichter beim Obersten Gericht sowie Mitglied des Zentralvorstandes der LDPD.
Biografie
Obwohl Alice Seiffert dem Betrachter auf überlieferten Fotos sehr zierlich, zurückhaltend und ernst erscheint, entwickelte sie ein Leben lang gegen alle Widrigkeiten eine enorme Zielstrebigkeit, unerschöpflichen Lebensmut, dazu Meisterschaft auf dem Gebiet der Literaturübersetzung.
Geboren 1897 in einer seit Jahrzehnten in Leipzig ansässigen jüdischen Kaufmannsfamilie, wuchs sie bis auf die Zeit des I. Weltkrieges ohne materielle Sorgen auf. Die Eltern unterstützten nicht nur Alices Bruder Alfred beim Medizinstudium, sondern ließen auch ihrer Tochter umfassende Bildung angedeihen. Im April 1917 erlangte sie an der Städtischen Studien-Anstalt die Hochschulreife. Zwar studierte Alice ebenfalls erfolgreich an den Universitäten München und Leipzig Medizin, übte jedoch den Beruf der Ärztin nicht aus. Stattdessen wandte sie sich den neueren Sprachen zu.
Am 02.01.1923 heiratete sie in Leipzig den Lehrer Hans Seiffert (17.01.1898 Magdeburg-24.07.1964 Leipzig), Sohn einer evangelisch-lutherischen Familie, der 1924 aus dem Schuldienst ausschied und sich Literatur-, Kunst- und Fremdsprachenstudien widmete. Beide begannen literarisch zu publizieren und unternahmen dafür Reisen in Europa. Hans Seifferts erfolgreiches Metier wurde die politische Dichtung und Satire als ständiger Mitarbeiter des "Simplicissimus", der Münchner Zeitschrift "Jugend" und der "Weltbühne". Alice arbeitete als freie Journalistin und veröffentlichte erste Übersetzungen von Erzählungen Prosper Mérimées und Guy de Maupassants in Zeitschriften.
Mit der NS-Herrschaft begann der Leidensweg des kinderlosen Ehepaares aufgrund der jüdischen Herkunft Alices. Beide erhielten Berufsverbot für "geistige Berufe". Sie verloren ihre Wohnung, ihr Vermögen und mussten Hausdurchsuchungen der Gestapo ertragen. Ihre restliche Habe ging beim Bombenangriff auf Leipzig am 03./04.12.1943 verloren. Alice wurde für einen Metallbetrieb in Leipzig 1942 bis 1944 dienstverpflichtet und im Februar 1945 in das KZ Theresienstadt deportiert, wo sie nur durch ihren enormen Willen überlebte.
Unterernährt und schwerkrank kehrte sie am 21.07.1945 nach Leipzig zurück. Ungeachtet der erlittenen gesundheitlichen Schäden, die ihr weiteres Leben begleiteten, begann sie wieder schriftstellerisch zu arbeiten. Zunächst schrieb sie Zeitungsartikel, so zum Beispiel: "Arbeiter erkämpfen den Aufbau" und "Jüdischer Alltag im Dritten Reich", in denen ihre antifaschistisch-demokratischen Positionen zum Ausdruck kamen.
Wie ihr Mann wurde sie anerkannte "Verfolgte des Naziregimes" (VdN). Im Prüfungsverfahren hatte sie auch ihre Mitgliedschaft im "Spartakusbund" benannt, wobei offenbleibt, ob damit der KPD-Vorläufer 1918 oder der antistalinistische linkskommunistische "Spartakusbund Nummer 2" um 1926 gemeint war. Nach 1945 gehörte sie dem Kulturbund und später dem Schriftstellerverband der DDR, Bezirk Leipzig an; einer Partei trat sie nicht bei.
Hans Seiffert - von 1945 bis Anfang der 1950er Jahre Mitglied der SPD/SED - war Archivleiter, Autor und festangestellter Redakteur der "Leipziger Zeitung" bis zu deren Verbot am 15.04.1948 und verfasste Beiträge für den Mitteldeutschen Rundfunk, darunter den "Frauenfunk". Er brachte zudem seine literarisch-satirische Neigung unter dem Pseudonym "Alba Tross" beim ersten Leipziger Nachkriegskabarett "Die Rampe" ein.
Ab circa 1949/50 begann Alice Seiffert mit ihrem Mann Literaturübersetzungen aus dem Französischen, Englischen und Amerikanischen vor allem für den Leipziger Reclam-Verlag und die Dieterich'sche Verlagsgesellschaft. 1956 erhielten beide in einem Übersetzerwettbewerb den ersten Preis des Ministeriums für Kultur für die Übersetzung von Beaumarchais' "Figaros Hochzeit".
Seit 1953 übersetzte Alice Seiffert auch allein. Als Freischaffende, zunehmend durch Krankheiten eingeschränkt, erfüllte sie trotz Termindrucks der Verlage ihre Übersetzungsarbeiten in höchster Qualität. Dennoch wurde das Ehepaar politisch beargwöhnt. Eine für 1959 beantragte Auslandsdienstreise in die französische Schweiz versagte ihnen die Berliner Zentrale des Schriftstellerverbandes der DDR am 02.07.1959 - offiziell aus Devisenmangel. Ganz anders lautete zuvor am 10.03.1959 die interne Stellungnahme des Bezirksvorstandes Leipzig des Schriftstellerverbandes, der keine Gewähr dafür geben wollte, "daß das Ehepaar Seiffert unsere Republik würdig vertritt".
Auch nach dem Tod von Hans Seiffert 1964 war das Leben in der DDR für Alice Seiffert nicht konfliktfrei - dennoch ging sie auf verschiedene Angebote, "in den Westen" zu übersiedeln, nicht ein.
Seit 1946 stand sie im umfangreichen Briefwechsel mit ihrem Bruder Alfred im Iran, mit ihrem Onkel Max Prochownik in China, später Israel und pflegte Kontakte zu einem jüdischen Hilfswerk in Schweden. Sie selbst hatte zwar am 21.06.1940 den Austritt aus der Leipziger jüdischen Gemeinde erklärt, sorgte aber weiterhin für die Pflege der Grabstätten ihrer Verwandten auf dem Alten Israelitischen Friedhof.
Als Rentnerin arbeitete Alice Seiffert weiter als gefragte Übersetzerin. Sie starb am 17.03.1976 und wurde wie ihr Mann auf dem evangelisch-lutherischen Friedhof Leipzig-Lindenau am 24.03.1976 in der VII. Abteilung bestattet.Der Nachlass von Alice und Hans Seiffert ist bisher noch nicht umfassend wissenschaftlich ausgewertet. Die Seiffert'schen Übersetzungen sind auch heute noch in Nachauflagen und Hörbuchversionen nutzbar.
Werke
Als Autorin
- A.[lice] S.[Seiffert]: "Die deutsche Bücherei". Zeitungsartikel in: Volksstimme, 20.11.1945, enthalten in: Staatsarchiv Leipzig, 21824, Nachlass Alice und Hans Seiffert, Nummer 43.
- Ali[ce Seiffert]: "Die hängenden Gärten". Zeitungsausschnitt [um 1946] ohne Quellenangabe, in: Staatsarchiv Leipzig, ebenda.
- Alice Seiffert: "Jüdischer Alltag im Dritten Reich". Zeitungsausschnitt [um 1946] ohne Quellenangabe, in: Staatsarchiv Leipzig, ebenda.
- A.[lice] S.[Seiffert]: "Der Mensch ist gut". Zeitungsausschnitt [ca. Mai 1946] ohne Quellenangabe, in: Staatsarchiv Leipzig, ebenda.
- "Erinnerung an Erwin Payr", in: Leipziger Zeitung. 1. Jahrgang Nummer 4, 10.05.1946 [nicht gezeichneter Beitrag, offensichtlich von Alice Seiffert verfasst in Erinnerung an ihren akademischen Lehrer].
- A.[lice] S.[eiffert]: "Christus als Pg." [Pg.=Parteigenosse der NSDAP], in: Leipziger Zeitung. 1. Jahrgang Nummer 11, 18.05.1946.
- A.[lice] S.[eiffert]: "Die menschliche Gestalt", in: Leipziger Zeitung. 1. Jahrgang Nummer 12, 19.05.1946 [inhaltlich - bis auf die Überschrift - mit dem oben genannten Zeitungsausschnitt "Der Mensch ist gut" identisch].
Als alleinige Übersetzerin
- Honoré de Balzac: Oberst Chabert. Aus dem Französischen, Reclam, Leipzig 1953.
- Prosper Mérimée: Carmen. Aus dem Französischen, Reclam, Leipzig 1953.
- Derselbe, Colomba: Aus dem Französischen. Mit einem Nachwort von Werner Bahner, Reclam, Leipzig 1954 und Online-Ausgabe: Deutsche Nationalbibliothek Leipzig, Frankfurt am Main 2012.
- Gustave Flaubert: Herodias. Aus dem Französischen, Reclam, Leipzig 1954.
- Alphonse Daudet: Briefe aus meiner Mühle. Aus dem Französischen, Reclam, Leipzig 1958 und Verlag Günther Eddelbüttel-Marissal, Berlin [West] 1958.
- Oscar Wilde: Sämtliche Märchen und Erzählungen. Aus dem Englischen. Mit einem Nachwort von F. W. Schulze, Dieterich'sche Verlagsgesellschaft, Leipzig 1959.
- Henry James: Schraubendrehungen. Erzählung. Aus dem Amerikanischen. Mit einem Nachwort von Rudolf Sühnel, Reclam, Stuttgart 1970 (Lizenz von Dieterich'sche Verlagsgesellschaft Leipzig).
Übersetzungen mit Ehemann Hans Seiffert
- Alphonse Daudet: Tartarin von Tarascon. Aus dem Französischen, Reclam, Leipzig 1950.
- Honoré de Balzac: Gobseck. Aus dem Französischen, Reclam, Leipzig 1952.
- Pierre Augustin Caron de Beaumarchais: Figaros Hochzeit oder Der tolle Tag. Aus dem Französischen, Reclam, Leipzig 1953.
- Marianne Monestier: Unter dem Nordlicht. Aus dem Französischen, Brockhaus, Leipzig 1954.
- Herman Melville: Moby Dick oder Der Wal. Aus dem Amerikanischen. Mit einem Nachwort von Rudolf Sühnel, Dieterich'sche Verlagsgesellschaft, Leipzig 1956.
- Norbert Casteret: Geheimnisvolle Höhlenwelt. Aus dem Französischen, Brockhaus, Leipzig 1957.
- John Gay: Die Bettleroper. Mit Zeichnungen von Josef Hegenbarth. Aus dem Englischen. Mit einem Nachwort von Karl-Heinz Schönfelder und Richard Petzoldt, Verlag Edition Leipzig und Lizenz Progress-Verlag Fladung, Darmstadt 1962.
Adressen in Leipzig
- 1897-1922 Humboldtstraße 4 (bei den Eltern)
- 1923-1925 Untere Münsterstraße 6 (1891 - 1968 Name der Kippenbergstraße in Anger und Reudnitz)
- 1926-1941 Humboldtstraße 4
- 1942-1943 Humboldtstraße 20 (Wohnung durch Bombenangriff am 03./04.12.1943 zerstört)
- 1944-1976 Wettiner Straße 3
Erinnerung/ Gedenken/ Würdigung in Leipzig
- 2022 stand ihr Name auf der von der AG Frauenprojekte initiierten Liste mit über 80 Vorschlägen für weibliche Straßennamen in Leipzig, die der Stadt übergeben wurde.
- 11.09.2022 Gegenwart aus Tradition gestalten. Jüdische Frauenperspektiven in Leipzig. Symposium & Workshops des Netzwerkes Jüdisches Leben Leipzig und von Bet Debora Berlin mit Erinnerungen an Henriette Goldschmidt (1825-1920), Bettina Brenner (1877-1948), Edith Mendelssohn Bartholdy (1882-1969), Louise Ariowitsch (1856-1939), Gertrud Herrmann (1896-1942 deportiert), Gerda Taro (1910-1937), Felicia Hart (1903-1976), Alice Seiffert (1897-1976) (alle aus dem Frauen online-Portal) und andere mehr
Zum Weiterlesen/ Literatur/ Quellen
- Gemeindeblatt der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig: Amtliches Nachrichtenblatt der Gemeindeverwaltung, Personenstandsnachrichten. Todesfälle, 3. Jahrgang Nummer 50 vom 16.12.1927, Seite 9.
- Leipziger Zeitung (Mai 1946 – April 1948, dann verboten).
- Sächsisches Staatsarchiv Leipzig: 21824 Nachlass Alice und Hans Seiffert; 20237 Bezirkstag und Rat des Bezirkes Leipzig, VdN-Akte, Nummer 115180; 21097 Gustav Kiepenheuer Verlag und Dieterich'sche Verlagsbuchhandlung, Autorenkorrespondenz mit Alice und Hans Seiffert 1953 bis 1975, Nummer 1322.
- Leipziger Städtische Bibliotheken, Literaturarchiv, Schriftstellerverband der DDR, Bezirksverband Leipzig, Personalunterlagen Alice und Hans Seiffert.
- Hans-Jürgen Rusch, Auf der Suche nach dem richtigen Wort. Zum 70. Geburtstag der Literaturübersetzerin Alice Seiffert am 26. August, in: Treffpunkt Leipzig. Mit Veranstaltungsplan, hrsg. vom Deutschen Kulturbund und der Presse- und der Kongreßstelle beim Rat der Stadt Leipzig, Heft 8/1967, Seite 11 und folgende
- Sächsisches Tageblatt: Organ der Liberaldemokratischen Partei Deutschlands (LDPD) für die Bezirke Dresden, Karl-Marx-Stadt und Leipzig, vom 23.03.1976 [Todesanzeige für Alice Seiffert, aufgegeben von Dr. Kurt Cohn].
- Hendrik Niether: Briefe von Onkel Max: Schreiben aus dem Exil nach Leipzig, zwischen Shanghai und der SBZ, Israel und der DDR 1945-1969, in: Medaon. Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung; Jahrgang 4(2010) 6. Seite 1-20.
Autor: Dr. Heiner Thurm (2020)