Frauen in der Leipziger Politik
Am 12. November 1918 verkündete der Rat der Volksbeauftragten in Berlin das Frauenstimmrecht: "Alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften sind fortan nach dem gleichen, geheimen, direkten, allgemeinen Wahlrecht aufgrund des proportionalen Wahlsystems für alle mindestens zwanzig Jahre alten männlichen und weiblichen Personen zu vollziehen." Am 30. November 1918 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet, in dem erstmals ein allgemeines, gleiches, geheimes und aktives Wahlrecht eingeführt wurde - zum ersten Mal durften auch Frauen wählen. Diese Bestimmung wurde auch Teil der Weimarer Verfassung 1919. Die Wahlgesetzgebung für die Durchführung der Wahlen auf Landes- und Kommunalebene wurde entsprechend angepasst.
Am 26. Januar 1919 durften Frauen erstmalig an den Wahlen für die Leipziger Stadtverordnetenversammlung teilnehmen und selbst kandidieren. 10 Frauen und 62 Männer wurden gewählt.
Leipziger Politikerinnen damals und heute
Im Folgenden stellen wir Ihnen weibliche Persönlichkeiten der Leipziger Kommunalpolitik aus der Vergangenheit und Gegenwart vor.
Über das Leben und politische Wirken der ersten Frauen im Leipziger Stadtverordnetenkollegium nach Einführung des Frauenwahlrechts sind nach intensiver Recherche insgesamt 13 Porträts entstanden.
Mit verschiedenen Kommunalpolitikerinnen der Gegenwart haben wir im Jahr 2018 Interviews geführt.
Die ersten allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlen in Leipzig 1919
von Herrn Prof. Dr. Thomas Höpel
Die Demokratisierung Deutschlands und die ersten freien Wahlen im Jahr 1919 beruhten auf dem Scheitern der politischen Eliten des Kaiserreichs. Sie hatten Deutschland in verantwortungsloser Weise in den Ersten Weltkrieg geführt. Angesichts der kritischen Kriegslage einerseits und der innenpolitisch zunehmend angespannten Situation andererseits suchten sie schon seit 1917 durch demokratische Reformen Staat und Gesellschaft - und damit ihre Machtstellung - zu stabilisieren. Das geschah auf der Ebene des Kaiserreichs, der Bundesstaaten und auch der Städte.
So wurde eine Wahlrechtsreform im Leipziger Stadtverordnetenkollegium bereits mehr als ein Jahr vor der Novemberrevolution diskutiert. Ausgangspunkt waren die Entwicklungen in Preußen. Nachdem der Kaiser in seiner Osterbotschaft im April 1917 eine Reform des Dreiklassenwahlrechts angekündigt hatte, begann die preußische Regierung an einer Reform zu arbeiten. Die preußischen Reformpläne führten im sächsischen Landtag zur Einsetzung einer Wahlrechtskommission, und sie brachten auch in Leipzig die Diskussion um das Gemeindewahlrecht in Gang. Zuerst die unabhängigen Sozialdemokraten und dann auch die Fortschrittliche Volkspartei forderten im Sommer 1917 die Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts. Die Leipziger Stadtverordneten konnten sich aber nur auf eine kosmetische Reform einigen: das Dreiklassenwahlrecht sollte beibehalten, aber das Verhältniswahlrecht für die drei Klassen sollte eingeführt werden, um die hohe Zahl der Nichtwähler zu verringern. Zudem sollte die Wählerzahl in der ersten und zweiten Klasse erhöht werden, indem die Höhe der gezahlten Einkommenssteuer für die Wähler in diesen Klassen reduziert wurde. Das Frauenstimmrecht wurde dagegen grundsätzlich abgelehnt. Allerdings kamen die Verhandlungen im gemischten Wahlausschuss dann nur sehr langsam voran und noch im Herbst 1918 lagen keine konkreten Ausschussanträge vor.
Angesichts der bevorstehenden Kriegsniederlage, der revolutionären Gärung sowie der Entwicklungen in Preußen und der dort im Herbst 1918 bevorstehenden Wahlrechtsänderung sahen es auch die bürgerlichen Leipziger Stadtverordneten aus der ersten und die meisten der zweiten Abteilung als angeraten an, eine grundlegendere Wahlrechtsreform vorzunehmen. Im Oktober 1918 brachten sie deshalb einen Antrag ein, der die Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts für die Stadtverordnetenwahl vorschlug. Zur gleichen Zeit wandten sich das Parteisekretariat der SPD und die Leipziger Ortsgruppe des Deutschen Reichsverbandes für Frauenstimmrecht mit je einer Eingabe an das Stadtverordnetenkollegium, in denen sie das gleiche, geheime, direkte und allgemeine Wahlrecht und insbesondere das Frauenwahlrecht beantragten. Die Eingaben wurden gemeinsam mit dem Antrag der bürgerlichen Stadtverordneten aus der ersten und zweiten Abteilung beraten. Allerdings zielte deren Antrag darauf, überkommene Regelungen der Stadtverordnetenwahl zumindest zum Teil zu bewahren. Das Wahlrecht sollte weiterhin auf die Bürgergemeinde beschränkt bleiben und die Frauen aus-schließen; das Hausbesitzerprivileg sollte beibehalten werden und bei den alle zwei Jahre er-folgenden Wahlen sollte jeweils nur ein Drittel des Kollegiums neu gewählt werden und zwar geteilt in Ansässige und Unansässige. Damit widersprach dieser Antrag aus den bürgerlichen Abteilungen des Stadtverordnetenkollegiums grundlegend den Eingaben der SPD und dem Reichsverband für Frauenstimmrecht. Es ging den Vertretern des Leipziger Bürgertums ziemlich deutlich um die Rettung so vieler Privilegien wie möglich. Der unabhängige Sozialdemokrat Fritz Seger erklärte die gesamte Diskussion um den bürgerlichen Antrag für müßig, da der Versuch des Leipziger Bürgertums, seine Privilegien zu bewahren, durch die weitere Entwicklung der Landes- und Reichsgesetzgebung sowieso überrollt und die Revidierte Städteordnung mit ihren überholten Wahlbestimmungen hinweggefegt werden würde. Diese Prophezeiung sollte sich schon sehr bald als wahr erweisen. Vorerst wurde aber der bürgerliche Antrag auf Wahlrechtsänderung angenommen, die Anträge der Sozialdemokraten und der von den Unabhängigen Sozialdemokraten unterstützte Antrag des Reichsverbandes für Frauenstimmrecht dagegen abgewiesen.
Die Durchsetzung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts für Männer und Frauen in der Novemberrevolution:
Die Aufstandsbewegung der ersten Novembertage, die die kaiserlichen Militär- und Zivilbehörden entmachtete, brachte die Sozialdemokraten an die Spitze der Reichsregierung und der überall gebildeten Arbeiter- und Soldatenräte. Auch in Leipzig bildete sich ein solches Gremium am 8. November. Am 9. November wurde der unabhängige Sozialdemokrat Fritz Seger zum provisorischen Volkskommissar für Leipzig ernannt.
Der Rat der Volksbeauftragten, die Übergangsregierung aus SPD und USPD, hatte bereits am 12. November 1918 grundlegende Veränderungen des Wahlrechts eingeführt: für alle Wahlen in Deutschland wurde das Verhältniswahlrecht eingeführt. Wahlberechtigt waren alle Frauen und Männer ab dem Alter von 20 Jahren, gewählt werden konnte man ab 25. Zudem wurden die Wahlkreise neu geschnitten, die im Kaiserreich sehr stark den ländlich-konservativen Raum gegenüber dem städtischen bevorzugt hatten. Die entsprechende Wahlordnung wurde am 30. November angenommen. Das neue Reichstagswahlrecht wurde auch zur Grundlage für die Gemeinde- und Landtagswahlen, selbst wenn es hier zu kleineren Änderungen kam, ins-besondere was das passive Wahlrecht betraf. In Sachsen war bereits am 28. November 1918 das allgemeine, gleiche, unmittelbare und geheime Verhältniswahlrecht für Männer und Frauen eingeführt worden.
Der amtierende Rat der Stadt Leipzig unter Oberbürgermeister Karl Rothe, aber auch die Kreis- und Amtshauptmannschaft sollten zwar ihre Geschäfte vorerst weiterführen "bis der Arbeiter- und Soldatenrat zu Leipzig und die sächsische Regierung in verfassungsrechtlicher Hinsicht andere Beschlüsse" fassen würde. Allerdings war bereits am 15. November das Stadtverordnetenkollegium, das nach dem Dreiklassenwahlrecht gebildet worden war, vom Arbeiter- und Soldatenrat für aufgelöst erklärt worden. Diese Entscheidung wurde trotz der Proteste der bürgerlichen Stadtverordneten aus Leipzig von der neuen sächsischen Revolutionsregierung nicht in Frage gestellt.
Die sächsische Revolutionsregierung erließ nach dem Vorbild der Reichsregierung am 23. November 1918 eine "Bekanntmachung über die Wahlen zu den Gemeindevertretungen", mit der das allgemeine, gleiche, geheime und direkte Stimmrecht allen Männern und Frauen, die das zwanzigste Lebensjahr vollendet hatten, eingeräumt wurde. Auch Unterstützungsempfänger und Soldaten waren dabei eingeschlossen; die Wahlen sollten nach dem Verhältniswahlrecht bis zum 31. Dezember 1918 erfolgen. Diese Anordnung wurde durch eine weitere Bekanntmachung vom 28. November 1918 leicht verändert. Da die Vorbereitung der Wahl zeitaufwändiger als erwartet war und die Gemeinden diese Aufgabe aufgrund von Personalmangel kaum bewältigen konnten, räumte die Revolutionsregierung den Gemeinden mehr Zeit für die Wahlvorbereitung ein. Die Wahlen sollten nun bis spätestens zum 9. Februar 1919 erfolgen und auch die Wahlzeit wurde um drei Stunden verlängert. Die konkreten Bestimmungen waren durch den Stadtrat ortsgesetzlich zu regeln, wobei der Arbeiter- und Soldatenrat gutachterlich hinzuzuziehen war. Anders als bei den Wahlen zur Nationalversammlung waren für die Stadtverordnetenwahlen alle Stimmberechtigten und nicht nur jene, die das 25. Lebensjahr bereits vollendet hatten, wählbar.
Der Stadtrat hatte schon am 27. November 1918 ein Ortsgesetz über die Stadtverordnetenwahlen vorgelegt, nach dem die Wahlen am 29. Dezember 1918 erfolgen sollten. Nach der Bekanntmachung der Revolutionsregierung vom 28. November 1918 verlegte der Rat der Stadt die Gemeindewahl auf den 26. Januar 1919. Die Wahlen sollten nach dem Verhältniswahlrecht erfolgen, wobei die ganze Stadt als ein Stimmbezirk gewertet wurde. Gewählt werden konnten nur Listenvorschläge, die 14 Tage vor dem Wahltag eingereicht worden waren. Ähnliches galt für die auf den 2. Februar 1919 angesetzten Wahlen zur sächsischen Volkskammer. Die Wählerlisten waren hierfür eine Woche einsehbar. Wahlberechtigt waren alle Deutschen ab 20 mit Wohnsitz in Sachsen.
Durch die Verlegung der Gemeindewahl auf den 26. Januar 1919 wurden die Wählerinnen und Wähler in Leipzig innerhalb von drei Wochen dreimal an die Wahlurnen gerufen. Für den 19. Januar war die Wahl zur verfassungsgebenden Deutschen Nationalversammlung angesetzt, am 26. Januar fand die Stadtverordnetenwahl und am 2. Februar die Wahl zur Sächsischen Volkskammer statt, die eine neue Landesverfassung ausarbeiten sollte. Diese rasche Aufeinanderfolge mehrerer wichtiger Wahlen barg positive und negative Aspekte in sich. Einerseits konnten auf diese Weise Wahlverhalten und Wahlabläufe eingeübt werden. Das war nicht unerheblich, da der größere Teil der Wahlberechtigten zum ersten Mal an einer Wahl teilnehmen konnte. Tatsächlich war die Zahl und Verteilung der Stimmbezirke und der Wahllokale, der Verlauf des Wahlaktes, die Erstellung von Wahlzetteln bei den drei Wahlen weitgehend identisch. Auch die Überprüfung der Wahllisten war nach dem gleichen Muster für alle Wahlen möglich. Die Wählerinnen und Wähler hatten zudem die Möglichkeit, bei den Wahlen zur Gemeinde- und dann zur Landesvertretung auf die Ergebnisse aus den vorangegangenen Wahlen zu reagieren, falls das Ergebnis nicht den persönlichen Wünschen entsprochen hatte. Auch die Parteien konnten versuchen, durch verstärkte Wahlpropaganda das Ergebnis der nächsten Wahl zu verbessern, und sie machten von dieser Möglichkeit intensiv Gebrauch. Trotz dieser positiven Aspekte wurde andererseits gefürchtet, dass die rasche Abfolge von drei Wahlen innerhalb von 15 Tagen auch eine gewisse Wahlmüdigkeit bei den Wählern auslösen könnte. Tatsächlich sank die Wahlbeteiligung nach den Wahlen zur Nationalversammlung deutlich ab.
Zwei Wochen vor der Wahl zur Nationalversammlung trat der öffentliche Wahlkampf in seine heiße Phase. Die Aufrufe zur Überprüfung der Wählerlisten wurden von den Leipzigerinnen und Leipzigern in großem Umfang aufgenommen; es gab lange Schlangen vor dem Rathaus sowie den Lokalen in den Vororten, an denen sie zur Einsichtnahme auslagen.
Die Wahllokale für die Wahl zur Nationalversammlung waren am 19. Januar 1919 von 9.00 bis 20.00 Uhr geöffnet. Leipzig und Umgebung bildeten den 29. Reichstagswahlkreis, in dem acht Abgeordnete für die Nationalversammlung gewählt wurden. Die Wahlzettel für die Wahl wurden nicht von den Behörden gestellt, sondern wurden entweder von den Parteien gedruckt und verteilt oder mussten handschriftlich außerhalb des Wahlraumes erstellt und zum Wahlvorgang mitgebracht werden. Auf dem Stimmzettel war eindeutig zu vermerken, welcher Liste man die Stimme geben wollte: Das konnte durch die Nennung des Spitzenkandidaten oder die Aufführung aller Namen einer Liste geschehen. Diesen Stimmzettel hatten die Wählerinnen und Wähler in der Wahlkabine in einen amtlichen Umschlag zu stecken und dann dem Wahlvorsteher zu übergeben, der ihn in die Wahlurne beförderte. Die Stadt Leipzig war in 234 Stimmbezirke eingeteilt worden. Wahlberechtigt waren neben den Leipziger Einwohnern auch die Soldaten, die in dem Stimmbezirk wählten, in dem ihr Truppenteil stationiert war bzw. in dem sich das jeweilige Lazarett befand. Die Parteien konnten bei den Wahlen Listenverbindungen eingehen, um auf diese Weise möglicherweise mehr Mandate zu erwerben.
Zur Wahl der Nationalversammlung traten im Leipziger Reichstagswahlkreis fünf Parteien an: die MSPD, die USPD, die DDP, die DNVP und die Christliche Volkspartei (Zentrum). Angesichts der Berliner Ereignisse und insbesondere der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg am 15. Januar 1919 kam es im Vorfeld der Wahl in Leipzig zu Massenprotesten. Der Unmut der Demonstranten richtete sich vor allem gegen die bürgerlichen Zeitungen in Leipzig. So traten am Freitag den 17. Januar Arbeiter unterschiedlicher Unternehmen, darunter der Großen Leipziger Straßenbahn, in den Streik. Die Demonstranten belagerten dann die Redaktionen der Leipziger Allgemeinen Zeitung, des Organs der DNVP, des Leipziger Tageblatts, der Leipziger Zeitung und der Leipziger Neuesten Nachrichten. Insbesondere bei der Leipziger Allgemeinen Zeitung und den Leipziger Neuesten Nachrichten wurden Flugblätter und andere Druckschriften entnommen und öffentlich verbrannt sowie Inventar in größerem Umfang beschädigt. Die Leipziger Allgemeine Zeitung konnte deswegen am 18. Januar 1919 nicht erscheinen. Auch das Organ der Mehrheitssozialisten, die Freie Presse, erfuhr den Unmut der Demonstranten. Für den 18. Januar hatte die USPD zum General-streik aufgerufen, der von den Belegschaften in den Unternehmen weitgehend befolgt wurde. Im Anschluss wurde erneut die Redaktion der Leipziger Neuesten Nachrichten besetzt und die eindringenden Linkssozialisten erzwangen den Druck von zwei Flugblättern. Der Wahlakt am 19. Januar verlief dann in ruhiger Atmosphäre; der Andrang zu den Wahllokalen war vor allem in den Vormittagsstunden groß. Alle fünf Parteien hatten auch jeweils eine Frau in ihre Kandidatenliste aufgenommen, allerdings befanden sie sich alle auf einem wenig erfolgversprechenden Listenplatz. Daher wurden im Leipziger Reichstagswahlkreis nur Männer in die Nationalversammlung gewählt. In Sachsen schafften es insgesamt nur zwei Frauen, die beide für die MSPD kandidiert hatten (eine im Dresdner und eine im Chemnitzer Wahlkreis), in die Nationalversammlung.
In Leipzig gingen die Wahllisten der DNVP und des Zentrums eine Listenverbindung ein. Die DDP hatte sich einer Listenverbindung mit der DNVP aus wahltaktischen und grundsätzlichen Gründen verweigert: sie wollte einerseits die noch zwischen DDP und MSPD schwankenden Wähler nicht in die Arme der Sozialdemokratie treiben; andererseits lehnte sie die autoritäre Ausrichtung der DNVP ab, deren konservative Mitgliedschaft als mitschuldig am undemokratischen alten Regime betrachtet wurden.
Die USPD war in Leipzig Gewinnerin der Wahl und entsandte die einzigen drei sächsischen unabhängigen Sozialdemokraten in die Nationalversammlung; sie erhielt aber nicht so viele Stimmen, wie sie erhofft hatte. An zweiter Stelle lagen die Demokraten, gefolgt von den Mehrheitssozialisten, die aber in Sachsen deutlich die Mehrheit erzielt hatten. Die Deutschnationalen brachten in Leipzig dagegen nur einen Kandidaten bei der Wahl durch. Das Zentrum scheiterte mit dem Versuch, durch das Image von einer konfessionsübergreifenden christlichen Volkspartei evangelische Sachsen für sich zu mobilisieren.
Ergebnis der Wahlen zur deutschen Nationalversammlung am 19. Januar 1919 (siehe Tabelle 1)
Das linksliberale Leipziger Tageblatt interpretierte dieses Ergebnis als Sieg des Bürgertums in Sachsen, weil sich das Verhältnis von sozialdemokratischen zu bürgerlichen Abgeordneten gegenüber der letzten Reichstagswahl 1912 zu Gunsten der bürgerlichen verbessert hätte: Hatten 1912 noch vier bürgerliche Abgeordnete 19 Sozialdemokraten gegenübergestanden, so waren 1919 zwölf Bürgerliche und 20 Sozialdemokraten gewählt worden. Ähnlich sahen das die Leipziger Neuesten Nachrichten.
Trotz dieser Einschätzung waren die bürgerlichen Parteien aber alles andere als zufrieden. Die DNVP warf der DDP vor, eine Stimme verschenkt zu haben, weil sie keine Listenverbindung mit den beiden anderen bürgerlichen Parteien eingegangen wäre. Allerdings hatte die DNVP im Vorfeld der Wahl die DDP hart attackiert und ihr einerseits vorgeworfen, "der rechte Flügel der Sozialdemokratie" zu sein, andererseits ihre "kapitalistischen eigensüchtigen Interessen" gegeißelt. Dann wurde die geringe Wahlbeteiligung als Ursache für das Ergebnis aus-gemacht. In Leipzig betrug sie nur 78 Prozent gegenüber 87 Prozent bei der letzten Reichstagswahl vor dem Ersten Weltkrieg. Allerdings waren auch deutlich mehr Menschen wahlberechtigt als noch 1912. Implizit wurde angedeutet, dass die Frauen möglicherweise dafür verantwortlich wären. Daher erging die dringende Aufforderung an alle Wählerinnen und Wähler, vor allem aber die aus bürgerlichen Kreisen, an der Gemeindewahl am 26. Januar teilzunehmen. Tatsächlich zeigte aber die später erstellte amtliche Statistik des Leipziger Wahlamtes, dass deutlich mehr Frauen als Männer gewählt hatten, nämlich 82,4 Prozent der wahlberechtigten Frauen und nur 71,7 Prozent der wahlberechtigten Männer. Der Wahlprüfungsausschuss stellte überdies fest, dass zwischen 1500 und 1800 Personen gewählt hatten, die eigentlich nicht wahlberechtigt waren; unter ihnen befanden sich circa 1200 Militärangehörige. Trotzdem stellte der Ausschuss klar, dass eine Wahlwiederholung aus diesem Grund nicht erfolgen müsste.
Bei der Stadtverordnetenwahl am 26. Januar war die Zahl der Wahlberechtigten dann geringer als bei der Wahl zur Nationalversammlung, weil Soldaten nur dann wählen durften, wenn sie ihren wesentlichen Wohnsitz in Leipzig hatten. Jene, die sich lediglich im Rahmen ihrer Wehrpflicht im Stadtgebiet aufhielten, besaßen kein Wahlrecht. Das galt auch für die Deutschösterreicher, die noch am 19. Januar gewählt hatten und die auch für die Volkskammerwahl am 2. Februar wahlberechtigt waren. Bei den Gemeindewahlen besaßen dagegen alle Wahlberechtigten auch das passive Wahlrecht, während die Kandidaten für die Nationalversammlung das 25. Lebensjahr vollendet haben mussten. Abgesehen von diesen beiden Unterschieden waren das Verfahren und die Regeln der beiden Wahlen vergleichbar.
Zu den Stadtverordnetenwahlen traten insgesamt sieben Wahllisten an. Der MSPD und der USPD standen fünf bürgerliche Parteien und Gruppen gegenüber, die eine Listenverbindung eingingen, um gegenüber den Sozialdemokraten beider Richtungen so viele Kandidaten wie möglich durchzubringen. Neben der DDP, der DNVP und dem Zentrum hatten auch die Privatangestellten und ein Bürgerlicher Wirtschaftsausschuss eine Wahlliste aufgestellt. Die bürgerliche Presse trommelte im Vorfeld emsig, weil sie eine große Mehrheit der Sozialdemokraten fürchtete. Das gilt auch für das Amtsblatt des Rates und des Polizeiamtes, obwohl der Rat öffentlich stets vorgab, rein unpolitisch die Geschicke der Stadt zu führen. Alle potentiellen Wähler aus dem Bürgertum wurden aufgefordert, zur Wahl zu gehen. Insbesondere die Frauen wurden erneut dringend dazu aufgerufen. Die DDP schaltete eine große Anzeige, in der die acht Kandidatinnen ihrer Wahlliste präsentiert wurden, um ihr Eintreten für die Interessen der Frau zu unterstreichen. Die DNVP warb damit, dass sie als einzige Partei eine Frau auf Platz zwei der Kandidatenliste gesetzt hatte. Zudem wurde die Einigkeit aller bürgerlichen Parteien und Wahlbündnisse im Kampf gegen den Sozialismus und die Sozialdemokratie beschworen. Die Appelle wurden nach dem Bekanntwerden der Wahlbeteiligung bei den Wahlen zur Nationalversammlung noch intensiviert.
Die MSPD, die den Wahlkampf für die Stadtverordnetenwahl mit deutlich weniger Engagement als den für die Wahlen zu Nationalversammlung betrieb, brachte als stärkstes Wahlargument die große Zahl von Frauen, die sie für ihre Wahlliste nominiert hatte. Sie wies darauf hin, dass sie an jeder sechsten Stelle ihrer Wahlliste eine Frau aufgestellt habe, während die bürgerlichen Parteien Frauen demgegenüber nur notgedrungen und die USPD lediglich fünf Frauen auf den Listenplätzen 26 bis 30 aufgestellt hätten. Die USPD unterstrich darauf allerdings, dass diese fünf Kandidatinnen mit großer Sicherheit alle gewählt würden. Zudem suchte sie die Wahlwerbung der DDP zu entschärfen, indem sie sehr nachdrücklich darauf hinwies, dass gerade die Protagonisten der DDP noch im Oktober 1918 das Frauenwahlrecht strikt abgelehnt hatten.
Der Rat der Stadt verkürzte aufgrund der Erfahrungen der Wahl zur Nationalversammlung zwei Tage vor der Stadtverordnetenwahl die Wahlzeit um zwei Stunden; statt um 20 Uhr, sollte die Wahl nun schon um 18 Uhr enden.
Im Ergebnis der Wahl konnte die USPD ihre Stimmenzahl in Leipzig auf Kosten der MSPD stark ausbauen, verpasste aber trotzdem die absolute Mehrheit. Die bürgerlichen Parteien holten mehr Stimmen als bei den Wahlen zur Nationalversammlung. 33 Abgeordneten der USPD standen 33 Abgeordnete der vereinigten bürgerlichen Listen gegenüber. Damit erhielten die sechs Mehrheitssozialisten eine Schlüsselfunktion für die künftige Arbeit des Stadtverordnetenkollegiums. Für die deutschnational ausgerichtete Leipziger Allgemeine stellte das aber nur einen kleinen Trost dar. Unter den 72 gewählten Stadtverordneten befanden sich auch zehn Frauen, wobei allein die Unabhängigen Sozialdemokraten fünf stellten. Für die Demokraten, die ihren Wahlkampf sehr stark auf die Frauen ausgerichtet hatten, zogen zwei Frauen ins Stadtparlament ein.
Ergebnis der Wahlen zum Stadtverordnetenkollegium am 26. Januar 1919 (siehe Tabelle 2)
Das liberale Leipziger Tageblatt betrachtete den Wahlausgang als erfreuliche Überraschung für die bürgerlichen Parteien, selbst wenn der Mittelstand einen großen Teil seiner Mandate gegenüber dem vorherigen Dreiklassenparlament eingebüßt hatte. Trotzdem appellierte die Zeitung angesichts der gesunkenen Wahlbeteiligung an die bürgerlichen Wähler, ihre Pflicht bei der anstehenden Wahl der Sächsischen Volkskammer besser zu erfüllen. Die Leipziger Allgemeine machte die geringere Wahlbeteiligung der Frau für das Ergebnis der Stadtverordnetenwahl verantwortlich - sie hätte sich vor Belästigungen gefürchtet und wäre deshalb den Wahl-lokalen in größerer Zahl ferngeblieben.
Vor der "Sachsenwahl" intensivierte sich der Wahlkampf noch einmal; eine riesige Zahl an Flugblättern wurde verteilt. Noch am Wahlsonntag selbst liefen Reklameträger aller Parteien durch die Leipziger Straßen; in einigen Stadtteilen hatte man Girlanden mit Wahlaufrufen quer über die Straßen angebracht; aus Lautsprechern und mit Trommeln und Trompeten wurde an die Wahlpflicht erinnert; Wahlhelfer forderten noch am frühen Abend säumige Wähler auf, ihre Stimme abzugeben.
Zu dieser dritten Wahl innerhalb von drei Wochen traten in Leipzig und dem Leipziger Wahlkreis (Stadt und Land) erneut die fünf Parteien an, die bereits an der Wahl zur Nationalversammlung teilgenommen hatten. DNVP und Zentrum gingen erneut eine Listenverbindung ein. Der Leipziger Bürgerausschuss wandte sich im Vorfeld der Wahlen angesichts der gesunkenen Wahlbeteiligung zur Gemeindewahl mit eindringlichen Appellen an die Leipziger Bürger und erklärte die Teilnahme an der Wahl zur "Bürgerpflicht jedes einzelnen". Trotz der Appelle blieb die Wahlbeteiligung in Leipzig mit 65 Prozent auf einem ähnlichen Stand wie bei den Gemeindewahlen am 26. Januar.
Bis auf das Zentrum, das sich nicht allzu viele Mandate erhoffte und nur eine Liste mit 16 Kandidaten und Kandidatinnen aufgestellt hatte, umfassten die Wahllisten der übrigen Parteien je 24 Bewerber und Bewerberinnen. So viele Abgeordnete wurden im Leipziger Wahl-kreis gewählt, während es im Dresdner 35 und im Chemnitzer 37 waren. Wie bei der Gemeindewahl stand das passive Wahlrecht allen Wahlberechtigten zu.
Auf den 112 Listenplätzen kandidierten insgesamt zwölf Frauen; dabei hatte die DNVP mit vier Kandidatinnen die meisten, die USPD mit einer Kandidatin die wenigsten Frauen in ihrer Wahlliste. Da aber die Kandidatin der USPD, Anna Geyer, weitaus günstiger auf der Liste platziert war als die Kandidatinnen der DNVP und der anderen Parteien, zog sie als einzige Frau aus Leipzig und dem gesamten Leipziger Wahlkreis in die Sächsische Volkskammer ein. Anna Geyer war zuvor bereits in das Leipziger Stadtverordnetenkollegium gewählt worden. Anfang 1920 rückte zudem mit Else Ulich-Beil noch eine zweite Leipzigerin in die Sächsische Volkskammer nach; sie trat an die Stelle eines schwer erkrankten Abgeordneten der DDP.
Bei den Wahlen siegten in Leipzig erneut die Unabhängigen Sozialdemokraten; sie erhielten zehn der 24 Mandate des Leipziger Wahlkreises. Die DDP erhielt sieben, die Mehrheitssozialisten bekamen vier und die Deutschnationalen drei. Die USPD konnte ihre Stimmenzahl in Leipzig gegenüber der Gemeindewahl halten, da aber insgesamt mehr Wähler wahlberechtigt waren, büßte sie über zwei Prozent ein. Die Mehrheitssozialdemokraten hatten sich nach dem Tief bei der Gemeindewahl in Leipzig zwar wieder etwas erholt, die Enttäuschung vieler sozialdemokratischer Stammwähler hatte sie aber in Sachsen empfindlich gegenüber den Nationalversammlungswahlen geschwächt. Die angestrebte absolute Mehrheit wurde deutlich verfehlt.
Ergebnis der Wahlen zur Sächsischem Volkskammer am 2. Februar 1919 (siehe Tabelle 3)
Die DDP verlor gegenüber den Wahlen zur Nationalversammlung etwas, während die DNVP leicht zulegen konnte. Das Ergebnis in ganz Sachsen wurde von den Leipziger Neuesten Nachrichten sehr düster kommentiert: nun wäre "das Wort vom "roten Sachsen" bittere Wahrheit geworden.
Ergebnisse der drei Wahlen vom 19. und 26. Januar und 2. Februar 1919 in Leipzig (siehe Tabelle 4):
Alles in allem konnten die Sozialdemokraten beider Richtungen Anfang 1919 in Leipzig zwar stets über 55 Prozent der Stimmen holen. Damit war aber ihr Wählerpotential so gut wie aus-geschöpft. Die Unabhängigen Sozialdemokraten dominierten zwar in Leipzig, befanden sich aber in der Nationalversammlung wie in der Sächsischen Volkskammer gegenüber der Mehrheitssozialdemokratie in der Minderheit. Auch in der Stadt Leipzig konnten sie ohne die gemäßigten Mehrheitssozialdemokraten keine Politik zu machen; dadurch konnten viele ihrer radikalen Reformprojekte ausbremst werden. Von einer sozialistischen Mehrheit merkte man daher nicht sehr viel. Die Wahlbeteiligung war nach der Wahl zur Nationalversammlung deutlich gefallen. Die Wählerinnen und Wähler unterschieden offensichtlich klar zwischen den Wahlen auf Reichsebene, insbesondere zu so einem wichtigen Gremium wie der verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung, und Wahlen auf der Ebene von Stadt und Land.
Übersichten Wahlergebnisse
Tabelle 1: Ergebnis der Wahlen zur deutschen Nationalversammlung am 19. Januar 1919
Parteien | Reich (in Prozent) | Sachsen (in Prozent) | Wahlkreis 29 (in Prozent) | Leipzig (in Prozent) |
---|---|---|---|---|
USPD | 7,6 | 13,9 | 38,2 | 42,8 |
DDP | 18,5 | 22,1 | 28,7 | 32,2 |
MSPD | 37,9 | 46,0 | 20,7 | 17,1 |
DNVP | 10,3 | 12,8 | 11,9 | 7,2 |
Zentrum | 19,7 | 1,0 | 0,5 | 0,7 |
DVP | 4,4 | 4,0 | - | - |
Tabelle 2: Ergebnis der Wahlen zum Stadtverordnetenkollegium am 26. Januar 1919
Parteien und Wahllisten | Stimmzahlen | in Prozent | Mandate | davon Frauen |
---|---|---|---|---|
USPD | 129.789 | 46,4 | 33 | 5 |
MSPD | 23.852 | 8,5 | 6 | 1 |
DDP | 63.892 | 22,8 | 17 | 2 |
Bürger-Wahlausschuss | 26.890 | 9,6 | 7 | - |
DNVP | 18.235 | 6,5 | 5 | 1 |
Privatangestellte | 15.299 | 5,5 | 4 | 1 |
Zentrum | 1.938 | 0,7 | - | - |
Tabelle 3: Ergebnis der Wahlen zur Sächsischem Volkskammer am 2. Februar 1919
Parteien | Sachsen insgesamt (Prozent) | Wahlkreis Leipzig (Stadt und Land) (Prozent) | Leipzig (Prozent) | Abgeordnete Sachsen | Abgeordnete Wahlkreis Leipzig |
---|---|---|---|---|---|
USPD | 16,3 | 39,5 | 44,3 | 15 | 10 |
DDP | 22,9 | 29,1 | 32,7 | 22 | 7 |
MSPD | 41,6 | 17,4 | 13,1 | 42 | 4 |
DNVP | 14,3 | 13,5 | 9,2 | 12 | 3 |
Zentrum | 1,0 | 0,5 | 0,7 | - | - |
DVP | 4,0 | - | - | 4 | - |
Tabelle 4: Ergebnisse der drei Wahlen vom 19. und 26. Januar und 2. Februar 1919 in Leipzig
Parteien | 19. Januar 1919 - Prozent | 19. Januar 1919 - Stimmen | 26. Januar 1919 - Prozent | 26. Januar - Stimmen | 2. Februar 1919 - Prozent | 2. Februar 1919 - Stimmen |
---|---|---|---|---|---|---|
USPD | 42,8 | 145.063 | 46,4 | 129.789 | 44,3 | 129.201 |
MSPD | 17,1 | 57.969 | 8,5 | 23.852 | 13,1 | 38.102 |
DDP | 32,2 | 109.100 | 22,8 | 63.892 | 32,7 | 95.254 |
Bürger-Wahlausschuss | 9,6 | 26.890 | ||||
Privatangestellte | 5,5 | 15.299 | ||||
DNVP | 7,2 | 24.379 | 6,5 | 18.235 | 9,2 | 26.904 |
Zentrum | 0,7 | 2.536 | 0,7 | 1.938 | 0,7 | 2.088 |
Gesamt | 100 | 339.477 | 100 | 279.895 | 100 | 291.549 |
Wahlbeteiligung | 78,2 | 65,5 | 65,3 |