Dr. Gesine Märtens
Mein Weg in den Leipziger Stadtrat
Seit sieben Jahren engagiere ich mich in Leipzig, in Sachsen und im Bund in der Frauenpolitik und in den Gremien von Bündnis90/Die Grünen. In den Jahren davor habe ich mich zivilgesellschaftlich in Vereinen engagiert und das hat natürlich auch nicht aufgehört. Gleichstellungs- und Frauenpolitik, der Schutz von Frauen und Mädchen vor Gewalt und soziokulturelle Aufgaben sind hier meine Schwerpunkte. "Frauen gehört ein gleichberechtigter und sicherer Platz in unserer Gesellschaft"- das ist mein Ziel, dafür setze ich mich ein. Den Leipziger Frauenlauf und das Frauenfestival habe ich mit auf den Weg gebracht.
Dann stand ich 2013 selbst an dem Punkt, an dem ich mich entscheiden musste. Seit 2012 arbeite ich im Gleichstellungsbeirat der Stadt Leipzig, bis zu meiner Wahl als Stadträtin als Delegierte des Kreisverbandes Bündnis90/Die Grünen. Auf dieser Basis ergab sich das Gespräch mit der Frage: "Kannst du dir denn nicht vorstellen, selbst als Stadträtin zu kandidieren? Dieser externe, ganz direkte Impuls war ein wichtiger Ideengeber, ich wäre persönlich noch gar nicht an dem Punkt gewesen. Ja und natürlich galt dann auch da für mich "Frau vor!". In meiner Partei habe ich ein Traineeprogramm für die Kommunalwahl absolviert, mich dann zur Wahl gestellt und bin auch gleich im ersten Anlauf gewählt worden.
Mein Weg in den Stadtrat bin ich gemeinsam mit meiner Partei gegangen. Allein ist sicher ungleich schwieriger. Politik machst du nie allein. Auch in der Kommunalpolitik benötigst du ein gutes Netzwerk, das die individuelle Kandidatur durch Strukturen und Ressourcen unterstützt. Versuch mal, ein Wahlplakat allein an einen Lichtmasten zu bekommen! Allein die Werbung und Öffentlichkeitsarbeit, die es im Wahlkampf braucht, um die eigene Person, die eigene Haltung und wofür man steht, so bekannt zu machen, dass man gewählt wird, das ist schon ein Brocken. Und wenn du dann im Stadtrat bist, dann willst du ja auch Politik mitgestalten und das geht wirklich nur gut, wenn du eine Fraktion im Rücken hast bilden kann.
Herausforderung Kommunalpolitik
Der große Spannungsbogen ist: Was ist gut für die Menschen in dieser Stadt - was braucht die Stadt? Jede, die im Stadtrat arbeitet, hat eine eigene politische Vision. Und natürlich sind die sehr unterschiedlich. Persönlich halte ich folgende Kriterien für wichtig: Leipzig muss sich entwickeln und dazu brauchen wir Konzepte, die ein bisschen über den Tellerrand schauen. Die Stadt braucht eine finanzielle Stabilität: wir machen mit dem Geld unserer Bürgerinnen und Bürger keine Experimente. Aber es lohnt sich mal auch mal in Jahrhundertschritten zu denken. Welche Stadt wollen wir den nächsten Generationen hinterlassen? Wichtiger als die Anzahl schöner Häuser ist aus meiner Sicht die soziale Dimension. Soziale Gerechtigkeit, Geschlechtergerechtigkeit und Umweltschutz.
Die größte Herausforderung für Kommunalpolitikerinnen ist es aus meiner Sicht, die Haushaltshoheit des Stadtrates wahrzunehmen. Es ist schwierig, sich die Regeln und Mechanismen von Haushaltspolitik zu erarbeiten, aber das ist die Basis, um zu verstehen und das Geld sorgsam zu verteilen. Wer verplant sonst schon 1,7 Milliarden Euro im Jahr?
Es gibt natürlich auch unzählige Formalia und Sprachregeln, die du schnell erlernen musst: Was zum Beispiel bedeutet der Ausruf "Ich mach mir den Verwaltungsstandpunkt zu eigen!"? Und für die vielen informellen Spielregeln und Gepflogenheiten des politischen Parketts gibt es erst recht kein Seminar. Hier braucht es Demut und Anpassungsfähigkeit und am besten gleich mehrere Jackets. Wer darauf nicht achtet, vergeudet Energie, die eigentlich in die inhaltliche Auseinandersetzung gehört. Es gibt für uns Frauen immer noch die Doppelaufgaben: einerseits gut mitreden zu können, andererseits die Klischees zu erfüllen. Und das macht es auch ein Stück schwierig; es hört einem eben keiner zu, wenn man nicht ein Jackett an hat. Kleiderordnung oder Uniformierung schafft grundsätzlich Vertrauen und in einem vertrauten Umfeld sind Menschen offener für das, was du willst ...
Hauptaufgabe als Stadträtin ist es, die Stadtverwaltung zu kontrollieren, zu korrigieren und sie zu inspirieren. Das Kontrollieren ist schon sehr formal und wenig lustvoll: Dokumente studieren, sich in Sachverhalte vertiefen, nachfragen, abwägen und diskutieren, um eine richtige Entscheidung für die Stadtentwicklung zu treffen. Das Korrigieren hat schon mehr lustvolle Elemente: Korrekturen sind richtungsgebend und tragen der eigenen Idee Rechnung. Und das Inspirieren ist das, was am meisten Spaß macht: hier kann ich am stärksten meine politischen Ideen artikulieren und die Anregungen der Menschen um mich herum einbringen.
Das geht natürlich nicht alles schnell. Bitten mich Bürgerinnen zum Beispiel: Wir hätten hier oder da gern eine Ampel oder ein Radweg: Kannst Du das organisieren? Dann kann ich sagen: Klar! Ich schlage das vor, aber auch wenn die Ampel verkehrspolitisch wirklich sinnvoll ist, wird sie sicher erst in fünf Jahren gebaut. Am Anfang war ich verzweifelt über die Langsamkeit oder den geringen Anteil von eigenen Ideen, die im politischen Kompromiss Wirklichkeit werden - dann habe ich verstanden, den anderen auch so geht es genauso. Die Verlangsamung der Prozesse hat auch ihr Gutes. Sie hütet davor, in Extreme zu gehen. Das Korrektiv der anderen ist sehr wertvoll, auch wenn es anstrengt und manchmal frustrierend ist. Das besondere an Leipzig ist ja, dass wir keine festen Koalitionen haben, dass wir in allen Themen immer wieder um jede Stimme ringen und neue Mehrheiten schaffen und das ist schon etwas Besonderes, weil es dazu führt, dass wir immer wieder miteinander sprechen, miteinander im Austausch bleiben. Und der Weg zu Neuem ist immer unbekannt. Kommunalpolitik ist immer ein großes Abenteuer.
Was sollte eine Stadträtin mitbringen?
Sie muss Lust haben am Ausprobieren und darf sich nicht entmutigen lassen, auch wenn ein Weg eine Sackgasse ist. Wenn sie merkt, ich kann hier zwar meilenweit laufen, komme aber nirgendwo hin, dann sollte sie die Kraft und den Mut aufbringen, noch einmal umzukehren, sich neu zu sortieren und einen weiteren Versuch starten.
Sie darf keine Scheu haben, eigene Überzeugungen zu vertreten, auch wenn es menschlich nicht immer ein einfacher Prozess ist: Denn sie sagt ja zumindest implizit anderen: Eh, ihr macht hier etwas nicht richtig. Dafür braucht es Mut. Sie darf sich nicht vor kritischen Diskussionen scheuen oder auch vor den Angriffen, denen sie ausgesetzt ist. Sie darf keine Angst haben, es sich mit jemandem zu verscherzen. Und dafür wiederum braucht man ein gutes Netzwerk, gute Freunde, um das auf Dauer auszuhalten ... Sie muss eine gute Netzwerkerin sein!
Wichtig ist auch, auf Menschen zugehen können, Lust zu haben, sich ständig mit Menschen zu umgeben, mit ihnen zu reden und ihnen zuzuhören. Hören, was draußen ist und das in Politik und Verwaltung einspeisen, dass ist die Kür; möglichst viele Lebensentwürfe wahrzunehmen und diesen in politischen Prozessen Platz verschaffen, das ist das Entscheidende. Das bedeutet: möglichst viel individuelles Glück an einzelnen Stellen bringt das Gesamtglück. Deshalb sind alle gleichermaßen zu hören: die in ihren Bauwagen und die in ihren Villen.
Ein großes Fachwissen auf einem Gebiet reicht nicht, sie braucht ein Talent zur Allrounderin.
Übrigens muss sie sich Kommunalpolitik auch leisten können: zwar gibt es eine Aufwandsentschädigung für die Ratsarbeit, aber summa summarum liegt die deutlich unter dem Mindestlohn. 10 bis 20 Stunden die Woche sind kein ungewöhnliches Zeitpensum.
Unterstützungsmechanismen
Netzwerk und Kooperation das sind Schlüsselwörter, wenn es um Unterstützungsmechanismen geht.
Fraktion ist ein Netzwerk, Partei ist ein Netzwerk. Unterstützung muss frau sich organisieren. Es ist auch thematisch abhängig, wer über den Meinungsaustausch ein Verbündeter wird, das kann auch über Fraktionen hinweg sein, das kann auch in die Stadtverwaltung sein. Es ist wichtig, dass eine für einen mitspricht - gedanklich-, wenn ich als Stadträtin ans Pult in der Ratsversammlung trete und mich positioniere.
Kooperation gibt es auf mehreren Ebenen: Es gibt Kooperation auf der Informations- und Gedankenebene, wo es auch über Fraktionsgrenzen hinweg sehr viel Spaß macht, sich Dinge auszudenken, Ideen zu entwickeln und dann auch gemeinsam zu handeln, das gilt natürlich für mich vor allem in Frauenzusammenhängen. Das ist im Leipziger Stadtrat häufig zu sehen: Frauen arbeiten über alle Fraktionen hinweg zusammen.
Die Partei ist ein wichtiger Unterstützer. Hier lernen Stadträte schon vor dem Mandat, wie das politische System funktioniert, lernen mit Niederlagen umzugehen und sie nicht persönlich zu nehmen, gewinnen und eben nicht gewinnen und weiter gehen; Du lernst auf dem Weg zu sein, du wird ja ständig korrigiert: o.k., dann war das eben noch nicht richtig und diese Erfahrung mit sich selbst zu machen, das bietet einem die parteipolitische Arbeit vor dem kommunalpolitischen Mandat.
Drei Gründe für kommunalpolitisches Engagement
In Kommunalpolitik geht es um die Ausübung von Macht, die Dir die Wählerinnen gegeben haben, und geht eben nicht gerade um wenig. Du bist eine von 70 Stimmen - mindestens 36 Stadträtinnen benötigt eine Entscheidung - und dann geht es um viel, in einer Stadt wie Leipzig mit einem Haushaltsvolumen von rund 1,7 Milliarden Euro, dann eine von 36 sein ... Da gibt es auch keine Rücksichtnahme oder keine Nachsicht mehr, da geht es eben auch um Interessen von Frauen. Deshalb müssen Frauen sich in Kommunalpolitik engagieren.
Grundsätzlich sollten wir uns für alle Frauen in der Kommunalpolitik einsetzen, jungen Frauen und ältere bitte gern auch. Denn demografisch betrachtet, sollten wir auch unbedingt Frauen jenseits der Doppelbelastung Stadträtin werden können und dass das auch eine gute Idee ist.
Kurzportrait
persönlich: Gesine Märtens, Jahrgang 1971, Therapeutin, promovierte Sozial- und Kulturwissenschaftlerin, Partnerschaft, 2 Töchter
parteipolitisch: Bündnis 90/ Die Grünen-Fraktion im Leipziger Stadtrat, gleichstellungspolitische Sprecherin der Fraktion, Mitglied der Partei Bündnis90/Die Grünen, kommunal: Stadträtin seit 2014, Wahlkreis 4 (Südvorstadt, Connewitz, Lößnig und Dölitz-Dösen); Ausschussmitglied FA Umwelt und Ordnung, FA Kultur, BA Kulturstätten, Mitglied im Gleichstellungsbeirat, Mitglied im Aufsichtsrat LEVG, Aufsichtsrat LEVG & CoKG, Aufsichtsrat Leipziger Stadtwerke
regional: Parteirat
bundesweit: Stellvertretende Sprecherin der BAG Frauenpolitik
engagiert: Frauen für Frauen e. V., Haus Steinstrasse e. V. , Laufen hilft e. V. , Heinrich Böll Stiftung