Mendelssohn Bartholdy, Edith Luisa Ida - Frauen in der Leipziger Politik
Edith Mendelssohn Bartholdy, um 1965 © Elsbeth Gropp (Köln) Bilder vergrößert anzeigen
geboren/ gestorben
6. Januar 1882 (Berlin) - 9. Juli 1969 (Köln)
Ausbildung
- absolvierte in Berlin die Höhere Töchterschule
- Mit 19 Jahren legte sie das Lehrerinnen-Examen ab.
- Fortan arbeitete sie als externe Lehrerin an der Berliner Königin-Luisen-Stiftung, einem Lehrerinnenseminar.
Gesellschaftliches Engagement
- engagierte sich im Leipziger Kunstverein, im Verein Leipziger Jahresausstellungen (LIA) und in der Gesellschaft der Freunde des Kunstgewerbemuseums
- wurde zu einer "der prominentesten Stimmen" der Sozialreform in Leipzig; Sie setzte sich sehr engagiert für die Säuglings- und Kleinkinder-Fürsorge ein und kämpfte gegen die hohe Kindersterblichkeit in Leipzig. Im Jahr 1912 wirkte sie maßgeblich an der Gründung des Leipziger Krippenvereins mit und initiierte die ersten Leipziger Krippen und Säuglingspflegeanstalten. Diese Einrichtungen übernahmen die Aufsicht von Kindern erwerbstätiger Leipzigerinnen.
- 1916 übernahm sie auch den Vorsitz im Verein für Mutterschutz.
- Sachverständige für Krippenwesen in der Frauenarbeitszentrale Berlin; In diesem Zusammenhang initiierte sie Krippengründungen in allen Teilen Deutschlands.
- Edith Mendelssohn Bartholdy engagierte sich auch im 1914 gegründeten Nationalen Frauendienst. In diesem Rahmen schuf sie eine Strickstube für Arbeiterinnen in der Alten Waage am Markt, in der 300 Arbeiterinnen beschäftigt wurden. Auf dem Hauptbahnhof leitete sie überdies eine Abteilung einer Verpflegungsstation für Soldaten.
- Als Vorsitzende des "Ausschusses für Säuglings- und Kleinkinderschutz" richtete Edith Mendelssohn Bartholdy im April 1918 an den Rat der Stadt und das Stadtverordnetenkollegium eine Eingabe, in der sie die Stadt aufforderte, ihre finanziellen Aufwendungen zu erhöhen, um durch die Anstellung von medizinisch geschulten Fürsorgerinnen die zunehmende Säuglingssterblichkeit einzudämmen. Der Rat wies die Eingabe jedoch ab, weil er die bestehende Hilfs- und Kontrollmöglichkeiten für ausreichend hielt, die Entlohnung der medizinisch geschulten Fürsorgerinnen als zu hoch einschätzte und eine systematische Beratung aller niedergekommenen Frauen als Eindringen in die Privatsphäre (insbesondere bei besser gestellten Kreisen) betrachtete. Nichtsdestoweniger war der Rat der Stadt an der Tätigkeit von Edith Mendelssohn Bartholdy sehr interessiert.
Partei
DDP
Rolle im Stadtrat
- Nachrückerin ab April 1919
- Erste politische Initiative: Bereits im Juli 1919 legte sie ein umfassendes Konzept vor, mit dem das Jugendamt radikal umgebaut und gestärkt werden sollte. Das zielte darauf, die Zersplitterung der kommunalen Kinder- und Jugendfürsorge, in der Jugend-, Schul- Gesundheits- und Fürsorgeamt separat voneinander agierten, zu beseitigen. Zudem zielte der Plan auf die Schaffung eines umfassenden Wohlfahrtsamtes, die Anstellung hauptamtlicher Kinder-, Jugend- und Schulärzte und auf die Vernetzung von kommunaler Jugendfürsorge mit den privaten Kinder- und Jugendfürsorgeeinrichtungen, wobei sie als Fernziel deren Kommunalisierung vorsah.
- Zweite politische Initiative: Die Gründung eines "Pflegamtes für sittlich gefährdete Frauen und Mädchen". Damit zielte sie auf eine Entkriminalisierung und Resozialisierung von Frauen aus dem Prostituiertenmilieu, auch um die zunehmende Verbreitung von Geschlechtskrankheiten einzudämmen.
Porträt
Edith Luisa Ida Speyer wurde am 6. Januar 1882 in Berlin in einem gutbürgerlichen jüdischen Elternhaus geboren. Ihr Vater Paul Jakob Speyer war Teilhaber der von dessen Vater Salomon gegründeten Fabrik Mohr&Speyer, die Militäreffekten und Uniformen herstellte und vermarktete; ihre Mutter Rosa Stern war die Tochter eines Königsberger Kaufmanns, der mit Tee handelte und dessen Kontor Filialen in Petersburg und Moskau besaß.
Edith Speyer absolvierte in Berlin die Höhere Töchterschule; mit 19 Jahren legte sie das Lehrerinnen-Examen ab. Fortan arbeitete sie als externe Lehrerin an der Berliner Königin-Luisen-Stiftung, einem Lehrerinnenseminar. Dass sie trotz der Herkunft aus einer sehr begüterten Familie einen Beruf ergriff, lag vermutlich an der Trennung ihrer Eltern im Jahr 1893. Paul Speyer war zuvor bereits aus dem Unternehmen ausgeschieden, vermutlich weil es unter seiner Leitung in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten war.
Im Jahre 1905 heiratete Edith Speyer den Bankier Ludwig Carl Mendelssohn Bartholdy (1878-1918); zuvor war sie zum evangelischen Christentum konvertiert. Nachdem das Paar 1908/1909 eine mehrmonatige Weltreise unternommen hatte, zog es im Jahr 1910 nach Leipzig, wo Ludwig Carl Mendelssohn Bartholdy die Leitung einer Bank übernahm. Standesgemäß engagierte sich Edith Mendelssohn Bartholdy im Leipziger Kunstverein, im Verein Leipziger Jahresausstellungen (LIA) und in der Gesellschaft der Freunde des Kunstgewerbemuseums. In Leipzig kam sie in engen und freundschaftlichen Kontakt zu zahlreichen Musikern und bildenden Künstlern wie Max Reger, Arthur Nikisch, Karl Straube und Max Klinger.
Daneben wurde Edith Mendelssohn Bartholdy zu einer "der prominentesten Stimmen" der Sozialreform in Leipzig. Sie setzte sich sehr engagiert für die Säuglings- und Kleinkinder-Fürsorge ein und kämpfte gegen die hohe Kindersterblichkeit in Leipzig. Im Jahr 1912 wirkte sie maßgeblich an der Gründung des Leipziger Krippenvereins mit und initiierte die ersten Leipziger Krippen und Säuglingspflegeanstalten sowie eine Schule für Säuglingspflegerinnen. Diese Einrichtungen übernahmen die Aufsicht von Kindern erwerbstätiger Leipzigerinnen.
Während des Ersten Weltkrieges verstärkte Edith Mendelssohn Bartholdy ihre Anstrengungen auf diesem Gebiet, auch weil die Säuglingssterblichkeit aufgrund der Kriegsmobilisierung und der zunehmend verschlechterten Wohnungs- und Ernährungslage in Leipzig drastisch zunahm. Sie gründete und leitete als Vorsitzende den "Ausschuß für Säuglings- und Kleinkinderschutz" beim "Kriegsausschuss sozialtätiger Vereinigungen". 1916 übernahm sie auch den Vorsitz im Verein für Mutterschutz. In der Kriegsamtsstelle Leipzig war sie als Sachverständige für Mutter- und Säuglingsfürsorge tätig, zudem arbeitete sie als Sachverständige für Krippenwesen in der Frauenarbeitszentrale Berlin. In diesem Zusammenhang initiierte sie Krippengründungen in allen Teilen Deutschlands, eine davon auch im Elsass. Im Jahr 1918 trat sie der Leipziger Zentrale für private Fürsorge bei.
Sie engagierte sich ebenfalls im 1914 gegründeten Nationalen Frauendienst. In diesem Rahmen schuf Edith Mendelssohn Bartholdy eine Strickstube für Arbeiterinnen in der Alten Waage am Markt, in der 300 Arbeiterinnen beschäftigt wurden. Auf dem Hauptbahnhof leitete sie überdies eine Abteilung einer Verpflegungsstation für Soldaten.
Als Vorsitzende des "Ausschusses für Säuglings- und Kleinkinderschutz" richtete Edith Mendelssohn Bartholdy im April 1918 an den Rat der Stadt und das Stadtverordnetenkollegium eine Eingabe, in der sie die Stadt aufforderte, ihre finanziellen Aufwendungen zu erhöhen, um durch die Anstellung von medizinisch geschulten Fürsorgerinnen die zunehmende Säuglingssterblichkeit einzudämmen. Der Rat wies die Eingabe jedoch ab, weil er die bestehenden Hilfs- und Kontrollmöglichkeiten für ausreichend hielt, die Entlohnung der medizinisch geschulten Fürsorgerinnen als zu hoch einschätzte und eine systematische Beratung aller niedergekommenen Frauen als Eindringen in die Privatsphäre (insbesondere bei besser gestellten Kreisen) betrachtete. Nichtsdestoweniger war der Rat der Stadt an der Tätigkeit von Edith Mendelssohn Bartholdy sehr interessiert. Der gemischte Ausschuss für Jugendfürsorge sah vor, sie bei der geplanten Vergrößerung des Ausschusses um zwei Männer und zwei Frauen in dieses Gremien zu wählen.
Auch ihr Privatleben wurde durch den Ersten Weltkrieg tiefgreifend verändert, weil ihr Mann noch kurz vor Kriegsende im Jahr 1918 an der Ostfront fiel.
Die Einführung des Frauenwahlrechts in Deutschlands eröffnete Edith Mendelssohn Bartholdy die Möglichkeit, die Arbeit für Sozialreform und Fürsorge nun auch auf parlamentarischer Ebene voranzutreiben. Sie fand ihre politische Heimstatt wie viele andere Leipziger Sozialreformerinnen in der Deutschen Demokratischen Partei (DDP), für die sie bei den Stadtverordnetenwahlen im Januar 1919 kandidierte. Am Tag der Wahl erschien im liberalen Leipziger Tageblatt ihr Artikel "Frauenforderungen zur Gemeindewahl", in dem sie programmatische Ziele für das erste Stadtparlament skizzierte, das erstmals Männer wie Frauen wählen konnten und für das alle Parteien auch Frauen zur Wahl nominiert hatten. Sie rief darin dazu auf, den "großen Ballast von bislang mitgeführten Überlieferungen über Bord zu werfen und mit alten verknöcherten Prinzipen zu brechen". Zentrale künftige Aufgaben der Stadtverwaltung sah sie vor allem bei bevölkerungspolitischen und hygienischen Fragen, insbesondere beim Mutter- und Säuglingsschutz. Sie forderte eine Dezentralisierung der Säuglingsfürsorge, die Schaffung von Beratungsstellen, die Anstellung einer großen Zahl von fachlich geschulten Fürsorgerinnen sowie weitere Maßnahmen zur Fürsorge für Schwangere und Säuglinge in Leipzig. Zudem machte sie die Bekämpfung der im Krieg in der Bevölkerung stark verbreiteten Tuberkulose als zentrale Aufgabe der Stadt aus. Organisatorisch forderte sie die Schaffung eines städtischen Amtes für soziale Fürsorge, in das die bisherigen Ämter für Kriegsfürsorge, Gesundheit, Armen- und Wohnungswesen sowie Arbeitsnachweis einzugliedern wären.
Zwar verpasste sie knapp den direkten Einzug ins Stadtparlament, da die DDP nur 17 Mandate erreichte, sie aber auf Platz 18 der Wahlliste kandidiert hatte. Schon im April 1919 rückte sie aber an Stelle des ausscheidenden Albert Dufour-Feronce, der ins Auswärtige Amt nach Berlin berufen wurde, in das Stadtverordnetenkollegium ein.
Dort profilierte sie sich als wohlfahrtspolitische Sprecherin der DDP-Fraktion und in den Anfangsjahren der Weimarer Republik auch des gesamten Stadtparlaments. Sie arbeitete im Verfassungs- und im Wohlfahrtsausschuss, aber vorwiegend in der Kleinkinder- und Jugendfürsorge sowie im Ausschuss für öffentliche Gesundheitspflege, und suchte die im programmatischen Artikel vom Januar formulierten Forderungen umzusetzen.
Bereits im Juli 1919 legte sie ein umfassendes Konzept vor, mit dem das Jugendamt radikal umgebaut und gestärkt werden sollte. Das zielte darauf, die Zersplitterung der kommunalen Kinder- und Jugendfürsorge, in der Jugend-, Schul- Gesundheits- und Fürsorgeamt separat voneinander agierten, zu beseitigen. Zudem zielte der Plan auf die Schaffung eines umfassenden Wohlfahrtsamtes, die Anstellung hauptamtlicher Kinder-, Jugend- und Schulärzte und auf die Vernetzung von kommunaler Jugendfürsorge mit den privaten Kinder- und Jugendfürsorgeeinrichtungen, wobei sie als Fernziel deren Kommunalisierung vorsah. Die Eingabe stützte sich auf die Gutachten verschiedener Ärzte und medizinischer Einrichtungen der Stadt. Die Stadtverordneten stimmten zwar im Oktober 1919 geschlossen der Eingabe zu, der Stadtrat war aber zu solch tiefgreifenden Veränderungen nicht bereit. Oberbürgermeister Rothe wollte die vor der Revolution geschaffenen Strukturen nicht in Frage stellen, fürchtete eine Politisierung der Verwaltung durch eine erhöhte Zahl unbesoldeter Stadträte und wohl auch eine zunehmende Kommunalisierung in diesem Bereich. Das von Edith Mendelssohn Bartholdy präsentierte Konzept der Leipziger Linksliberalen stieß zudem auf den starken Widerstand der konfessionellen Privatwohlfahrt, insbesondere beim Verein für Innere Mission, weil es sich gegen die konfessionell ausgerichtete soziale Arbeit wandte. Die konfessionellen Wohlfahrtsorganisationen mobilisierten dagegen recht bald ihre Fürsprecher im rechtsbürgerlichen Lager und in der Stadtverwaltung.
Obwohl ihr Vorschlag die Zustimmung des Stadtparlaments fand, blockierte der Leipziger Stadtrat seine Umsetzung. Er ignorierte den Beschluss erst einmal zwei Jahre lang. 1921 scheiterte dann jede Zentralisierung der Jugendfürsorge an den gegenläufigen Interessen der verschiedenen Ämter, die angesichts der sich zuspitzenden Krise keine Kompetenzen abzugeben bereit waren.
An ähnlichen Widerständen scheiterte auch ihre zweite Initiative im Jahr 1919, die die Gründung eines "Pflegamtes für sittlich gefährdete Frauen und Mädchen" vorsah. Damit zielte sie auf eine Entkriminalisierung und Resozialisierung von Frauen aus dem Prostituiertenmilieu, auch um die zunehmende Verbreitung von Geschlechtskrankheiten einzudämmen. Zwar stimmte die Stadtverordnetenversammlung erneut der Eingabe zu, der Polizeidirektor weigerte sich aber, seine Kompetenzen im Bereich der Sittenpolizei abzugeben, und die freie, konfessionelle Wohlfahrtspflege wandte sich ebenfalls dagegen, weil sie ihr eigenes Betätigungsfeld bedroht sah. Der Rat zögerte daraufhin die Gründung des Pflegamtes mehrere Jahre hinaus. Es wurde erst im Jahr 1924 eingerichtet.
Edith Mendelssohn Bartholdy war zudem Wortführerin der DDP beim Kampf um ein Wohlfahrtsamt in Leipzig, das die gesamte Sozialbürokratie in Leipzig bündeln und alle Aufgabenfelder zusammenfassen sollte. Ein solches Amt war durch die im Februar 1919 beschlossenen Ausführungsbestimmungen zum sächsischen Wohlfahrtspflegegesetz vom Mai 1918 beschlossen worden. Der Stadtrat zögerte auch hier die Umsetzung heraus; er schlug im Jahr 1921 zwar die Schaffung eines Wohlfahrtsamtes vor, allerdings nicht als Zentralbehörde, sondern neben den bereits bestehenden Fachbehörden. Ein grundlegender Dissenz bestand in der Frage der Einordnung der privaten Fürsorge. Mendelssohn Bartholdy ging davon aus, dass sie sich einer kommunal zentralisierten, einheitlich geformten Daseinsfürsorge einzupassen und fortan nur ausführende Tätigkeiten zu übernehmen hätte. Der Stadtrat ging dagegen vom subsidiären Charakter der kommunalen Fürsorge aus, die vor allem die private Fürsorge zu fördern habe.
Die Stadtverordneten lehnten die Ratsvorlage im Mai 1922 dann auch ab und Edith Mendelssohn Bartholdy präsentierte einen Gegenentwurf, der von einem parlamentarischen Sonderausschuss erarbeitet worden war und weitgehend ihre Vorstellungen umsetzte, denen sich sowohl USPD als auch Wirtschaftspolitische Fraktion angeschlossen hatten. Obwohl sich sogar der Fürsorgedezernent Johannes Weber für diesen Antrag aussprach, lehnte es die Stadtverwaltung ab, die von den Stadtverordneten geforderte Umstrukturierung der Sozialverwaltung vorzunehmen.
Die Anstrengungen von Edith Mendelssohn Bartholdy und der ihr nahestehenden größeren Gruppe der DDP-Stadtverordneten wurden nicht nur von Seiten der Stadtverwaltung konterkariert, auch das Beharren der Sozialdemokraten auf der Kommunalisierung der privaten Fürsorge unterminierte ihre Anstrengungen. Die Sozialdemokraten wandten sich vor allem gegen die Leipziger Innere Mission, die nicht nur als Fürsorgeeinrichtung tätig war, sondern auch eine Rechristianisierung der Leipziger Bevölkerung anstrebte und dezidiert antisozialdemokratisch ausgerichtet war.
Dieser Dissenz offenbarte sich im Jahr 1923, als Edith Mendelssohn Bartholdy angesichts der schweren Wirtschafts- und Gesellschaftskrise im Zuge der Hyperinflation das überkonfessionelle Massenhilfswerk Winterhilfe maßgeblich mitbegründete. Die SPD, die grundsätzlich gegen private Wohltätigkeitsinitiativen war, lehnte es kategorisch ab, "sich an der Verteilung privater Spenden zu beteiligen" und einen Vertreter in den Ausschuss der Winterhilfe zu berufen. Der Widerstand der Sozialdemokraten gegen die Winterhilfe riss auch 1924 nicht ab. Nichtsdestoweniger gelang es der Winterhilfe erhebliche Mittel zu akquirieren. Sie organisierte bis Ende April 1924 Massenspeisungen, die vor allem denjenigen zu Gute kam, die nicht von der kommunalen Wohlfahrt erreicht wurden. Daneben errichtete sie Wärme- und Speisestuben, unterstützte Speisetische privater Organisationen, verteilte Lebensmittelspenden sowie Kleidung und Sachspenden.
Edith Mendelssohn Bartholdy stellte in diesem Zeitraum ihre gesamte Arbeitskraft diesem Wohltätigkeitswerk zur Verfügung und gab ihre Tätigkeit als Kunsthändlerin auf. Auch nach dem April 1924 wirkte sie weiter als Vorsitzende der Winterhilfe.
Ihre Aktivität in der Winterhilfe geriet im Spätherbst 1924 von rechtsbürgerlicher und nationalistischer Seite in die Kritik. Da sich die wirtschaftliche Situation von Edith Mendelssohn Bartholdy verschlechtert hatte, wollte sie sich im Herbst 1924 wieder ihrer Tätigkeit als Kunsthändlerin zuwenden, der Vorstand drängte sie aber, die Arbeit für die Winterhilfe erneut in gleicher Weise wie im Vorjahr zu übernehmen. Um der Organisation ihre Arbeitskraft zu erhalten, stimmte der Finanzausschuss für eine befristete Aufwandsentschädigung von 500 Reichsmark im Monat, die aus einem privaten Sonderfond stammte. Daraufhin gab es zuerst Angriffe von Seiten der Nationalsozialisten, die sich sowohl gegen sie als Jüdin als auch Vertreterin der "Systempartei" DDP wandten. Sie warfen ihr vor, aus der Wohltätigkeit ein Geschäft zu machen und stilisierten sie als Prototyp des "scheinheiligen Juden". Während die Sozialdemokraten die Erklärung des zweiten Vorstandsvorsitzenden der Winterhilfe Walter Simons, dass die Aufwandsentschädigung nicht aus den gesammelten Spenden bezahlt würde und dass die Tätigkeit von Edith Mendelssohn Bartholdy für die Winterhilfe enorm wichtig wäre, als ausreichend einschätzten, setzten sich die Angriffe in der Folge auch aus dem rechtsbürgerlichen Lager fort. So stellte sich zwar der Vorstand der Winterhilfe fast geschlossen hinter sie, die Wohlfahrtsexpertin der bürgerlichen Gemeinschaftsliste, die DNVP-Stadtverordnete und ehemalige Landtagsabgeordnete Magdalene Focke kritisierte aber, "dass die Entschädigung zu hoch sei, da keine erwerbstätige Frau ein derartiges Einkommen habe." Hintergrund dafür war auch, dass aufgrund der Sammlungstätigkeit der Winterhilfe die Sammlungen der kirchlichen Inneren Mission nicht mehr so viel einbrachten. Die Deutschnationalen unterstützten aber nachdrücklich die Innere Mission - Magdalene Focke war sogar Mitglied in dieser Organisation.
Obwohl der Vorstand der Winterhilfe beschloss, die Aufwandsentschädigung in der zuvor beschlossenen Höhe aufrechtzuerhalten, ließ Edith Mendelssohn Bartholdy sie sich aufgrund der Angriffe im Dezember 1924 nicht mehr auszahlen und suchte sich eine anderweitige Finanzierung; zudem legte sie zum Jahresende die Geschäftsführung der Winterhilfe nieder. Allerdings behielt sie die ehrenamtliche Oberleitung der Winterhilfe.
Für die Winterhilfe hatte diese Kampagne schwerwiegende Konsequenzen: Die Gesamteinnahmen gingen seit Anfang Dezember 1924 deutlich zurück. Deshalb konnten im Winter 1924/25 nur ein Fünftel der Essensportionen ausgegeben werden, die 1923/24 verteilt worden waren. Die Winterhilfe musste ihre Tätigkeit im Mai 1925 wegen zu geringer Einnahmen einstellen. Bei der Sammlungstätigkeit sahen sich die ehrenamtlichen Kräfte heftigen Angriffen ausgesetzt: "Unsere Helfer und Sammler klagen außerdem darüber, dass bei Verhandlungen mit Privatpersonen, Organisationen, als auch bei Straßensammlungen und in öffentlichen Lokalen in schärfster Weise gegen die Winterhilfe Stimmung gemacht und die Aufwandsentschädigungsfrage in gehässigster Form gegen sie ausgewertet werde." Die städtische Verwaltung drängte trotzdem darauf, den Verein Winterhilfe weiter zu erhalten, wenn auch auf niedrigerem Level: er sollte in Notzeiten reaktiviert werden. Erst 1934 wurde die Leipziger Winterhilfe endgültig aufgelöst.
Die Auseinandersetzung um die Aufwandsentschädigung, die Edith Mendelssohn Bartholdy für ihre Arbeit in der Leipziger Winterhilfe erhielt, zeigt sehr deutlich, dass trotz des Frauenwahlrechts von einer wirklichen Gleichberechtigung der Frau im öffentlichen Leben keine Rede sein konnte. Gerade Frauen aus der bürgerlich-rechtsnationalen Frauenbewegung beharrten darauf, dass Frauen lediglich ehrenamtlich tätig sein sollten; sie sollten keinen der Tätigkeit angemessenen Verdienst erhalten, der einem Mann gezahlt werden würde.
In der linksliberalen DDP wurden die Frauen zwar gleichberechtigt in die Arbeit einbezogen, aber auch dort waren sie vorrangig auf "weibliche Themen" wie Kultur, Bildungswesen und soziale Fürsorge festgelegt.
Edith Mendelssohn Bartholdy macht hier keine Ausnahme, sah diese Felder als besondere weibliche Domäne an und unterstrich deren Nutzen für das Gemeinwesen. Sie verband dies aber zugleich mit dem Kampf für die Rechte und Interessen von Mädchen und Frauen und war hierbei besonders aktiv. Sie trat nachdrücklich für die Verbesserung der Arbeits- und Besoldungsverhältnisse von Arbeiterinnen und weiblichen Angestellten ein. Sie sah zum Beispiel in der geringeren Bezahlung der Frau eine Ursache für die Prostitution und forderte Änderungen ein.
Im Juli 1924 gründete sie die Frauenerwerbshilfe Leipzig mit, die sich um Frauen kümmerte, die sich mit Heimarbeit ihren Lebensunterhalt verdienten. Ihre Zahl hatte stark zugenommen, weil Frauen, vor allem verheiratete Frauen, von Entlassungen besonders betroffen waren. Die Frauenerwerbshilfe bemühte sich, ihnen Beschäftigung zu vermitteln und ihnen einen angemessenen Verdienst zu sichern. Der Rat der Stadt stellte Räume für diesen Vermittlungsdienst bereit. Edith Mendelssohn Bartholdy trat zudem nachdrücklich für eine qualitative und quantitative Verbesserung des Mädchenschulwesens ein.
Nichtsdestoweniger machte sie sich wenig Illusionen über die Fortschritte der Gleichberechtigung der Frau. In einem Artikel in der Neuen Leipziger Zeitung stellte sie bereits im Jahr 1921 sehr klarsichtig fest: "Sehr bald mußten die Frauen einsehen, daß mit dem Wahlrecht noch lange nicht alle Voraussetzungen für die erstrebte Gleichberechtigung erfüllt waren, und daß es intensiverer Arbeit als bisher bedurfte, um einerseits die theoretische Gleichstellung im öffentlichen Leben auch in die Praxis zu übertragen, andererseits die Frauen zu befähigen, den ihnen nun obliegenden Pflichten voll nachzukommen."
Im September 1926 forderte sie die Frauen auf, stärker als bisher an den öffentlichen Angelegenheiten teilzunehmen, gerade auch um Bildung, Fürsorge und Kultur gegenüber den häufig im Vordergrund stehenden wirtschaftlichen Fragen zu stärken.
Als Mitglied der DDP war Edith Mendelssohn Bartholdy Mitte der 1920er Jahre im Gesamtvorstand des Leipziger Bürgerbundes vertreten, was für die Koordinierung der bürgerlichen Parteien in der Stadt wichtig war. Im 1918 gegründeten Bürgerbund hatten sich die städtischen Honoratioren der Gesellschaft "Harmonie" mit den Mittelstandsgruppen zusammengeschlossen, und der Bund bereitete die Aufstellung von bürgerlichen Gemeinschaftslisten und Listenverbindungen für die Stadtverordnetenwahlen vor.
Die jahrelange unermüdliche Mehrfachbelastung als Kunsthändlerin (erneut seit 1925) Stadtverordnete und im privaten Wohlfahrts- und Fürsorgewesen ging an Edith Mendelssohn Bartholdy nicht folgenlos vorbei. Anfang 1927 erkrankte sie und fuhr zur Genesung nach Italien. Da diese sich immer weiter herauszögerte, legte sie im September 1927 auf Anraten ihres Arztes ihr Stadtverordnetenmandat nieder. Sie mietete eine Wohnung in Florenz, ließ ihre beiden Hausangestellten aus Leipzig kommen und verbrachte einige Monate in der Hauptstadt der Toskana.
Nach ihrer Rückkehr nach Leipzig setzte sie ihre ehrenamtliche Arbeit fort. Neben dem Wohlfahrts- und Fürsorgebereich war sie auch im Kunstbereich aktiv. Schon im Jahr 1916 gründete sie die Leipziger Max-Reger-Gesellschaft und war zuerst als deren Vorsitzende und bis in die 1930er Jahre als Schriftführerin aktiv. Reger gehörte nach ihrer Übersiedlung nach Leipzig 1910 zu ihrem engsten Freundeskreis und verbrachte viele Stunden im Haushalt der Familie Mendelssohn Bartholdy. Im Jahr 1930 gründete sie die Leipziger Ortsgruppe der Gemeinschaft Deutscher und Oesterreichischer Künstlerinnen und Kunstfreunde (GEDOK) und übernahm zugleich deren Vorsitz. Als zweite Vorsitzende der Reichs-GEDOK vertrat sie den Verein bei Beratungen im Völkerbund. Im Jahr 1931 veranstaltete die Gesellschaft unter ihrer Federführung die erste Künstlerinnenausstellung in Leipzig. Da Edith Mendelssohn Bartholdy auch nach ihrer Übersiedlung nach Leipzig engen Kontakt zu ihren Berliner Verwandten unterhielt und oft in Berlin weilte, wählte die Berliner Ortsgruppe der GEDOK sie dort zu ihrer Vorsitzenden. Die Leipziger Ortsgruppe machte sie aufgrund ihrer Verdienste zur Ehrenvorsitzenden. Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten musste sie als Jüdin alle Ämter niederlegen.
Sie konnte zwar ihre 1932 eröffnete Verkaufsstelle für Volkskunst und Handwerk im Leipziger Norden und eine Produktionsfirma für Kunsthandwerk noch einige Jahre betreiben. Nachdem die Bedingungen in Leipzig für jüdische Bürger aber immer schwieriger wurden und die Reichskulturkammer ihr die Tätigkeit als Kunsthändlerin verboten hatte, beantragte Edith Mendelssohn Bartholdy im Jahr 1938 einen Auslandspass. Sie wollte Deutschland verlassen und nach England, wohin sie schon zuvor geschäftliche Kontakte hatte, übersiedeln. Nachdem der NSDAP-Kreisleiter im August 1938 keine Bedenken gegen ihre Auswanderung geltend gemacht hatte, emigrierte Edith Mendelssohn Bartholdy im September 1938 nach England. An der von Dr. Hilde Lion gegründeten und geleiteten Stoatley Rough School arbeitete sie als Lehrerin für Flüchtlingskinder.
Nach Kriegsende machte sie im Jahr 1947 einen letzten Besuch in Leipzig, um Freunde zu treffen. Erst 1951 übersiedelte sie endgültig wieder nach Deutschland und ließ sich zunächst in Frankfurt am Main nieder. Im November 1952 zog sie dann nach Köln. Sofort nahm sie ihr ehrenamtliches Engagement wieder auf und engagierte sich nun vor allem für die Altenbetreuung und Altenfürsorge. 1957 begann sie im Westdeutschen Rundfunk mit der Sendereihe "Der Lebensabend", wenig später schuf sie an der Kölner Volkshochschule die Arbeitsgemeinschaft "Das Altern lernen", in der sie Vorträge, Besichtigungen von Museen, Kirchen und Betrieben organisierte. 1964 gründete sie in Köln dann einen Altenklub, der regen Zuspruch fand. Zuletzt lebte sie in Köln in den Riehler Heimstätten, wo sie am 9. Juli 1969 starb. Ihr Grab befindet sich auf dem Kölner Melatenfriedhof.
Thomas Höpel, 2018; aktualisiert 2020
Vgl. auch das Porträt von „Edith Louise Ida Mendelssohn Bartholdy“, von Rita Jorek auf dem Online-Portal „Frauen machen Geschichte - Leipziger Frauenporträts“, 2014
Quellen
Literatur
- Paul Brandmann, Leipzig zwischen Klassenkampf und Sozialreform: Kommunale Wohlfahrtspolitik zwischen 1890 und 1929, Köln/ Weimar/ Wien 1998, Seite 139, 292, 295, 298-309.
- Rita Jorek, ""Alles Große ist leise". Aus der Geschichte der 90-jährigen Künstlerinnengemeinschaft GEDOK und zu ihrem Wirken in Leipzig", in: Stadt Leipzig (Herausgeberin), Leipziger Almanach 2015/2016, Leipzig 2017, Seite 161-172.
- Rita Jorek, "Edith Mendelssohn Bartholdy (1882-1969). Sozial- und Kulturpolitikerin", in: Leipziger Lerchen. Frauen erinnern, 2. Folge, Leipzig 2000, Seite 32-41.
- Edith Mendelssohn Bartholdy (Herausgeberin), Der Lebensabend, Gütersloh 1958.
- Michael Schäfer, Bürgertum in der Krise. Städtische Mittelklassen in Edinburgh und Leipzig von 1890 bis 1930, Göttingen 2003, Seite 259, 260.
Archive
- Sächsisches Staatsarchiv, StA-L, 20031, PP-S 2267.
- Stadtarchiv Leipzig, AFSA, Nummer 2066.
- Stadtarchiv Leipzig, AFSA, Nummer 2069.
- Stadtarchiv Leipzig, AFSA, Nummer 2072.
- Stadtarchiv Leipzig, Kapitel 6, Nummer 59, Band 1, Blatt 77, 78: Auszugsweise Abschrift aus dem Protokoll der Sitzung des Jugendfürsorge-Ausschusses am 4. März 1918.
- Stadtarchiv Leipzig, Kapitel 35, Nummer 814, Blatt 243: Vierzehnter Jahresbericht des Vereins Zentrale für private Fürsorge zu Leipzig über das Jahr 1918.
- Stadtarchiv Leipzig, Stadtverordnetenakten, Nummer A 5, Band 10, Blatt 82-117: Eingabe an die Stadtverordneten vom 11. Juli 1919.
Gedruckte Quellen
- Leipziger Allgemeine Zeitung, Nummer 95, 18. April 1919: "Eine neue Stadtverordnete".
- Leipziger Hausfrau, 23. Jahrgang 1924/25, Nummer 4, 22. Oktober 1924: "Die Not der Alten und Einsamen. Zwecke und Ziele der Leipziger Winterhilfe e.V.".
- Leipziger Neueste Nachrichten, Nummer 3490. 7. Dezember 1924, Seite 16: Walter Simons, "Wahlkampf und Winterhilfe".
- Leipziger Tageblatt, Nummer 35, 22. Januar 1919, Seite 13: Amtliche Bekanntmachung: Wahlvorschläge zur Stadtverordnetenwahl.
- Leipziger Tageblatt, Nummer 43, 26. Januar 1919, Seite 3: Edith Mendelssohn Bartholdy, "Frauenforderungen zur Gemeindepolitik".
- Leipziger Volkszeitung, Nummer 279, 29. November 1924: "Ein Angriff auf die demokratische Stadtverordnete Mendelssohn Bartholdy".
- Neue Leipziger Zeitung, Nummer 194, 15. Juli 1925, Seite 3: Edith Mendelssohn-Bartholdy, "Der Allgemeine Deutsche Frauenverein. Sein 60jähriges Bestehen".
- Neue Leipziger Zeitung, Nummer 194, 15. Juli 1925, Seite 17: "Die Leipziger Winterhilfe. Tätigkeitsbericht 1924/25".
- Neue Leipziger Zeitung, Nummer 262, 22. September 1926, Seite 3: Edith Mendelssohn-Bartholdy, "Das Leipziger Stadtverordnetenkollegium".
- Neue Leipziger Zeitung, Nummer 255, 15. September 1927, Seite 4: Reinhart Herz, "Frau Mendelssohn Bartholdy legt ihr Stadtverordnetenmandat nieder".
- Neue Leipziger Zeitung, Nummer 17, 17. Januar 1932, Seite 4: "Abschied von Edith Mendelssohn-Bartholdy".
- Verhandlungen der Stadtverordneten zu Leipzig im Jahre 1918, 1919, 1924, 1925.
- Sebastian Panwitz, "Edith Mendelssohn Bartholdy: Lebenserinnerungen (Teil I)", in: Mendelssohn-Studien. Beiträge zur neueren deutschen Kulturgeschichte, Band 20, herausgegeben von Roland Dieter Schmidt-Hensel und Christoph Schulte, Hannover 2017, Seite 187-226.
- Sebastian Panwitz, "Edith Mendelssohn Bartholdy: Lebenserinnerungen (Teil II)", in: Mendelssohn-Studien. Beiträge zur neueren deutschen Kulturgeschichte, Band 21, herausgegeben von Roland Dieter Schmidt-Hensel und Christoph Schulte, Hannover 2019, Seite 265-302