Arbeitsort Straße: Unterwegs mit den Streetworkern
Ihr Arbeitsort ist die Straße. Hier treffen Streetworker Menschen mit Alkohol- und anderen Drogenproblemen, die wohnungslos oder von Wohnungslosigkeit bedroht sind. Das kann am Hauptbahnhof sein, vor der Kaufhalle, in der Grünanlage oder einfach an der nächsten Straßenecke. Dorothee Zickermann und Eike Bösing sind zwei von ihnen, bilden mit Markus Hörold das Team "Wohnen" im Projekt Safe beim Suchtzentrum Leipzig. Das Amtsblatt war mit ihnen unterwegs.
Arbeit mit Menschen, die Probleme haben
Es ist kalt an diesem Freitagvormittag, an dem Dorothee Zickermann und Eike Bösing ihre Tour am Hauptbahnhof beginnen. "Mal sehen, ob bei dem Wetter überhaupt jemand am Platz ist", meint Eike. Doch neben dem Eingang zur Westhalle haben sich trotz Kälte sieben Leute eingefunden. Dorothee und Eike sind schon bekannt hier, schnell kommen sie ins Gespräch. Als gute "Türöffner" funktionieren hier Dorothees Hunde Mischa und Ranka. Über das Thema Hund lässt sich als Einstieg gut plaudern, denn viele besitzen selber Hunde, um die sie sich kümmern. So läuft es auch diesmal - Eike und Dorothee können einem Klienten einen Kontakt zu einem Tierarzt vermitteln, dessen Arbeit von einem Verein unterstützt wird. Oft geht es aber auch "nur" darum, Präsenz zu zeigen: Hier ist jemand, an den könnt ihr euch wenden, wenn ihr Hilfe und Unterstützung braucht.
Dorothee und Eike arbeiten vorrangig entlang der Georg-Schumann-Straße im Leipziger Norden und rund um den Hauptbahnhof. Sie kümmern sich um Erwachsene ab 27 Jahre, für die die Jugendhilfe nicht mehr zuständig ist. Für Kinder und Jugendliche gibt es Streetwork schon lange. Gerade konnten die städtischen Streetworker ihr 25-jähriges Jubiläum begehen. Für Erwachsene ist seit 2010 das Team "Konsum" im Leipziger Westen unterwegs, ebenfalls im Rahmen des Safe-Projektes. Das Team "Wohnen" - ein EU-Projekt und gefördert vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und dem Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (EHAP) - kam erst zu Jahresbeginn hinzu.
Wohnungslosigkeit hat viele Ursachen
Die Ursachen für Wohnungslosigkeit sind vielfältig: Krankheit, Behinderung, Jobverlust, familiäre Trennung, Altersarmut. Kommen dann auch noch Alkoholmissbrauch oder andere Drogenprobleme hinzu, dreht sich die Abwärtsspirale noch schneller. Doch wer Hilfe braucht und sucht, bekommt sie. In Leipzig gibt es zahlreiche Anlaufpunkte für Jugendliche und Erwachsene mit Problemen.
"Streetwork ist ein wichtiges niedrigschwelliges Angebot der Jugendhilfe und der Suchthilfe", lobt Bürgermeister Thomas Fabian. "Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter sind da, wenn andere schon aufgegeben haben. Sie unterstützen Menschen, die kaum noch Hoffnung und Eigenmotivation haben, dabei, ihre Probleme anzugehen und Wege in ein selbstständiges Leben zu finden."
Täglich auf der Straße
Das Wichtigste sei, am Anfang Vertrauen aufzubauen. Eike erklärt: "Wir kommen ja ungefragt an die Plätze, wo die Leute manchmal schon seit über fünf Jahren stehen." Bei den Älteren habe es eine Weile gedauert, denn er und seine Kollegin sind erst 27 Jahre "jung", aber die beiden Vierbeiner Mischa und Ranka hätten auch hier "gute Arbeit geleistet".
Fast jeden Tag sind die beiden Straßensozialarbeiter auf der Straße unterwegs. Sie versuchen, jeden Platz mindestens einmal wöchentlich anzusteuern, denn Regelmäßigkeit und Verlässlichkeit sind das Fundament ihrer Arbeit. Immer dienstags stehen sie gemeinsam mit dem Streetmobil der städtischen Straßensozialarbeit und der "Oase", der Ökumenischen Kontaktstube für wohnungslose Menschen, in der Goethestraße. Seit September bietet das Team auch eine Beratungszeit beim Bürgerverein Gohlis in der Lindenthaler Straße 34 an - immer mittwochs von 10 bis 13 Uhr.
Brückenbauer ins Hilfesystem
Als Team "Wohnen" liegt ihnen dieses Thema natürlich besonders am Herzen. Hier sind sie Brückenbauer ins Hilfesystem, beraten und begleiten auch in manchen Fällen zur LWB oder zu den Stadtwerken. Oberstes Ziel ist die Vermeidung von Wohnungslosigkeit, denn "wer wohnungslos ist, bleibt es auch erst mal", sagt Eike. Der anziehende Leipziger Wohnungsmarkt mache es gerade bedürftigen Menschen zunehmend schwer, eine Bleibe zu finden. Kämen auch noch Mietschulden dazu, sei es nahezu unmöglich. "Wir bieten dann wenigstens einen Schlafplatz an", so Dorothee. Doch etliche wollten nicht ins Übernachtungshaus, hätten Angst vor Diebstählen. Außerdem ist dort alkohol- und drogenfreie Zone - für viele auch keine Option.
Erfolg hat viele Gesichter
Was ist ein Erfolg? "Für einige ist es schon ein Schlafsack, für andere wieder Strom in der Wohnung oder eine Entgiftung", weiß Dorothee. Täglich mit den Problemen dieser Menschen klar kommen zu müssen, erfordert einen professionellen Umgang. Dorothee und Eike nehmen die Sorgen nicht mit in den Feierabend. Weil sie im Team arbeiten, können sie sich austauschen und Supervision nutzen. Ihre Ziele stecken sie sich durchaus realistisch: "Für uns ist schon gute Kontakt- und Beziehungsarbeit ein Erfolg - wenn die Leute sich freuen, wenn wir kommen."
Wir sehen, was oft keiner sieht
Seit 25 Jahren leistet die Stadt Leipzig Straßensozialarbeit. Unter dem Motto: "Has(s)t du Stress?" kümmern sich die städtischen Streetworker in den drei Teams "Südost", "Ost" und "Nord" um ausgegrenzte und benachteiligte Kinder und Jugendliche, beraten, betreuen, begleiten und vermitteln Hilfen. Die Teams verfügen über je eine Kontakt- und Beratungsstelle - doch ihre eigentliche Arbeit findet auf der Straße statt - Streetwork eben. Wie sie ihre Arbeit organisieren, Klienten erreichen und helfen können, fragte das Leipziger Amtsblatt den Chef der städtischen Streetworker, Lutz Wiederanders.
Herr Wiederanders, warum brauchen wir Streetwork?
Straßensozialarbeit ist aufsuchend, das heißt, wir gehen dort hin, wo sich die Jugendlichen aufhalten. So können wir sehr gut Menschen erreichen, die Vernachlässigung, Delinquenz, Drogengebrauch oder Prostitution und damit auch Straßenkarrieren erlebt haben und die am Rand der Gesellschaft stehen. Dieser "Rand" ist aber mitten in der Stadt anzutreffen. Streetwork sieht oft, was keiner sieht und nimmt feinfühlig gesellschaftliche Trends wahr.
Wie muss man sich die tägliche Arbeit vorstellen?
Wir Sozialarbeiter sind auf den Straßen, Plätzen oder in Häusern unterwegs und sprechen junge Menschen an, von denen wir meinen, dass sie Unterstützungsbedarf haben könnten. Es geht darum, Kontakte aufzubauen und zu pflegen, Brücken zu bauen aus verfestigten Problemlagen hin zum Hilfesystem. Es braucht Zeit, ehe Vertrauen aufgebaut ist und die Probleme klar auf den Tisch kommen. Straßensozialarbeit kann keine Wunder vollbringen, aber mit Menschen Ideen entwickeln, um Lebensverhältnisse zu verbessern. Da geht man oft lange Wege, der Rückfall ist immer wieder der Normalfall. Geduld und immer wieder zuhören sind genauso wichtig wie ein akzeptierender und wertschätzender Umgang - egal wie jemand aussieht, riecht oder sich verständlich machen kann. Manches lässt sich schnell und gut klären, anderes dauert.
Welche Möglichkeiten bietet die Straßensozialarbeit und welchen Grenzen ist sie ausgesetzt?
Streetwork berät in der aktuellen Lebenssituation, begleitet zu Ämtern und Behörden, stabilisiert Lebenslagen, unterstützt bei der Alltagsbewältigung, organisiert und bietet Grundversorgung an, ermöglicht Zugang zu sozialen Diensten und motiviert, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Grundlage ist die sogenannte Niedrigschwelligkeit. Sie ermöglicht, ohne Vorbedingungen Kontakt aufzunehmen. Es gibt ein sehr vielfältiges Repertoire an Hilfs- und Unterstützungsmöglichkeiten. Unsere Grenzen liegen eindeutig da, wo sich Leute entziehen oder therapeutische oder medizinische Hilfe benötigen. Streetwork ist aber auch als Angebot der Jugendarbeit konzipiert. Wir Straßensozialarbeiter suchen jugendliche Cliquen an öffentlichen Plätzen oder in Parks auf. Wir organisieren auch Freizeitfahrten, die zum noch besseren gegenseitigen Verstehen beitragen, oder Graffiti-Projekte, die bei den Anwohnern in den Stadtteilen wieder Akzeptanz schaffen. Gerade hier verteidigen wir immer wieder den Grundsatz, dass wir uns um Menschen kümmern, die Probleme haben, und nicht um Menschen, die Probleme machen.
In Leipzig gibt es weitere Streetwork-Projekte für verschiedene Zielgruppen. Wie ist das organisiert und wie funktioniert der Austausch?
Etliche Vereine und die Kommune selbst bieten Straßensozialarbeit an. Die Arbeitsschwerpunkte reichen von Drogenhilfe, Beratung für Prostituierte, Alkoholkonsum, Wohnungslosigkeit, Aids/ HIV, Menschen mit Straßenkarrieren bis Migration, Jugendcliquen, Hilfe für Einzelne und anderes mehr. Die meisten Projekte bieten weiterführende Angebote und Projekte in Kontakt- und Beratungsstellen an wie Wäsche waschen, Duschen, Essen, Kleiderkammer, Spritzentausch, Internetzugang, Tagesstruktur, Freizeit-, Bildungs-, Kultur- und Beschäftigungsprojekte. Alle professionellen Teams sind in Fachbereichen organisiert und in einem gut funktionierenden Netzwerk miteinander verbunden. Außerdem wird aktiv in Gremien und Arbeitskreisen der Stadt Leipzig mitgearbeitet.
Über Alkoholabstürze und dünnes Eis
"Wollten Sie sich umbringen, Herr Schuster?", fragt ihn eine Ärztin, als Hans-Jürgen Schuster 2006 mit 4,98 Promille im Blut in die Klinik Altscherbitz eingeliefert wird. "Eigentlich nicht", entgegnete der Leipziger damals. Es hätte schief gehen können und es bleibt trotzdem nicht sein einziger Absturz.
Zu oft aus der Bahn geworfen
"Es gab Zeiten mit meiner Clique am Lindenauer Markt, da habe ich am Tag drei bis vier Flaschen Braunen getrunken", erzählt der 56-Jährige. Zu langer Leerlauf zwischen guten Jobs, schlechten Zeitarbeitsverträgen, Umschulungen und befristeten Maßnahmen hatten den Holztechniker immer wieder aus der Bahn geworfen. 16 Jahre ohne Arbeit, eine gescheiterte Ehe, eine kaputte Partnerschaft mit einer Alkoholikerin, zwei Langzeittherapien und 27 Entgiftungen - auf diese Bilanz ist Schuster nicht stolz, wohl aber darauf, dass er immer wieder die Kraft findet, aufsteht und jetzt wieder seit zwei Monaten trocken ist.
Jeder Tag ein neuer Kampf
"Ich muss über das halbe Jahr kommen, das ist mein Problem", sagt er und: "Ich kämpfe jeden Tag, eine andere Wahl habe ich nicht!" Doch Schuster wirkt zuversichtlich. Seit dem Sommer gibt es eine neue Liebe und gerade arbeitet er beim Wabe e. V., baut die Dekoration für Seniorenweihnachtsfeiern, beides tut ihm gut. "Ich brauche einen strukturierten Tag, brauche Arbeit möglichst an frischer Luft, das macht mich zufrieden." Ab Frühjahr hofft er auf eine letzte halbjährliche Verlängerung, möchte bei Wabe wieder in den Tafel-Gärten arbeiten. Wie es danach weitergeht, weiß er nicht. Wo er Unterstützung bekommt, allerdings schon.
Suchtberatung und Streetworker helfen
Monatlich geht er zur Suchtberatung oder trifft donnerstags das Erwachsenen-Streetwork-Team am Lindenauer Markt. "Ich finde Streetwork gut. Wenn keiner mehr was von uns wissen will, diese Leute kümmern sich um uns. Aber Hilfe zulassen, das musst Du erst lernen, nur dann hast Du wirklich eine Chance."
Danke für alles!
"Ich hol jetzt meine Freundin ab, dann den Kleinen von der Kita, einkaufen, Abendbrot und morgen wieder raus zur Frühschicht." Um diesen ganz normalen Alltag hat Marius P. sein halbes Leben gekämpft und tut es noch. Der 32-Jährige blickt auf eine Drogenkarriere mit allem, was dazugehört und hat den Mut, darüber zu sprechen.
"Mit 13 habe ich das erste Mal Cannabis probiert, mit 15 alles genommen, was auf dem Markt zu kriegen war, mit 16 hing ich fest an der Nadel." Weil die alkoholkranke Mutter sich nicht kümmern kann, landet Marius in einer WG und bei Leuten mit gleichem Problem. Nichts wird besser. "Mit 18 zog ich dort aus, schlief mal hier, mal da, bis ich auf die Streetworker um Lutz Wiederanders traf und mit deren Hilfe auch eine Wohnung fand."
Fester Draht zu den Streetworkern
Die Sucht aber bleibt. Dreimal führt Beschaffungskriminalität ihn ins Gefängnis - einziger Besuch: eine Streetworkerin. Davor, dazwischen und danach etwa 20 Entgiftungen und drei vergebliche Versuche einer Langzeittherapie. Der vierte Anlauf klappt in Duisburg - sechs Monate, Nachbetreuung in einer Clean-WG, die lang ersehnte Behandlung seiner Hepatitis C, Schulabschluss und erste Schritte in Richtung Arbeit. Doch vor drei Jahren stirbt die Mutter. Noch einmal ein schwarzes Loch und der Griff zu Drogen. Doch da gibt es die Freundin schon, den festen Draht zu den Streetworkern und die Chance zur ambulanten Drogen-Substitution.
Blumen für das Team
"Anfang 2017 will ich auf null sein, dann mache ich die Fahrerlaubnis und unterschreibe hoffentlich einen unbefristeten Arbeitsvertrag." Gerade absolviert Marius einen Crash-Kurs in der Logistikbranche. "Ohne die Straßensozialarbeit wäre ich heute nicht an diesem Punkt. Als ich von deren 25. Geburtstag las, hatte ich einen Plan." Mit Familie und Blümchen stand er am 22. September vor dem Wiederanders-Team. "Danke für alles!"