Die ausgezeichneten Gedichtzyklen Maria Stepanovas – so liedhaft wie erzählerisch – führen eindrücklich vor, wie sich in aktuelle Poesie ein waches Geschichtsbewusstsein einschreibt. Der Lyrikband „Mädchen ohne Kleider“ ist im Mai 2022 im Verlag Suhrkamp erschienen. Die viel gelobte Übertragung aus dem Russischen stammt von Olga Radetzkaja. Die Jury verwies in ihrer Begründung auch auf den Lyrikband „Der Körper kehrt wieder“ (2020) und den Roman „Nach dem Gedächtnis“ (2020).
Die Reden zur Preisverleihung
Ilma Rakusa betonte in ihrer Laudatio auf Maria Stepanova, dass "der Begriff Weltpoesie zu kaum einer zeitgenössischen Lyrikerin so gut wie zu ihr (passe), die wie selbstverständlich mit Homer, Dante und Shakespeare, Goethe, Rilke und Celan, Walt Whitman, Emily Dickinson und T.S. Eliot, Ossip Mandelstam, Marina Zwetajewa und Joseph Brodsky in Dialog tritt." Sie sagte außerdem, dass Stepanovas großes Thema die Erinnerung sei, die sie in Fragmenten sammelt und neu zusammensetzt. "Maria Stepanova ist eine zauberische Verwandlerin: aus Kleinem macht sie Großes, aus Großem Kleines; ein Gang durchs Feld führt mitunter in die Tiefen der Historie, kosmische Zusammenhänge erschließen sich aus Schweißflecken, Wollmäusen, Fusseln." So entstehe eine "wahrhaftige" und "welthaltige" Poesie.
Maria Stepanova sagte, dass sie "durch (ihre) Geburt und (ihre) Staatsangehörigkeit mit einem Land verbunden (ist), das jetzt versucht, Europa zurück in die Vergangenheit zu werfen (...)". Sie gehöre zu denen, "die in russischer Sprache schreiben und die versuchen, sie im Namen der Zukunft neu zu gestalten." Sie widersetze sich jenen Kräften, die versuchen, die russische "Sprache als Instrument der Gewalt und des Todes (zu) missbrauchen." Sie fragte in ihrer Rede, was Lyrik angesichts eines brutalen Krieges bewirken könne. Im Nachdenken über das Wirken von Poesie und das Schreiben in russischer Sprache setzte sie ihre berührende Rede fort.