Leipziger Robert-Blum-Preis für Demokratie
Die Stadt Leipzig verleiht ab 2024 alle zwei Jahre den mit 25.000 Euro dotierten Preis an eine Persönlichkeit aus Kultur, Kunst, Wissenschaft, Religion, Politik und Publizistik. Die Schirmherrschaft hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier übernommen.
Mit dem Preis wird der Einsatz für Demokratie, Meinungsfreiheit, Aufklärung, gewaltfreien Wandel sowie innerdeutsche, europäische und/ oder weltweite Verständigung im Geiste Robert Blums ausgezeichnet. Ein besonderer Aspekt liegt dabei auf öffentlichen Ausdrucksformen, wie beispielsweise wegweisenden Reden und (künstlerischen) Darbietungen, die intolerante Macht- und Denkstrukturen offenlegen sowie demokratische Werte und Institutionen verteidigen. Der Preis macht Leipzig als bedeutenden Ort der Demokratieaufbrüche von 1848/ 49 und auch 1989 wirkungsvoll sichtbar.
Schirmherr Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
In Leipzig haben der Mut und das Engagement von Bürgerinnen und Bürgern eine lange Tradition. Aus der Erinnerung an die demokratischen Aufbrüche unserer Geschichte können wir Kraft schöpfen für die großen Aufgaben, die vor uns liegen. Mut zur Veränderung und der feste Glaube an die Zukunft – das ist es, was Robert Blum uns vorgelebt hat.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
Preisträgerin 2024: Präsidentin der Republik Moldau, Maia Sandu
Oberbürgermeister Burkhard Jung, Präsidentin der Republik Moldau, Maia Sandu © claudiamasur.com Bilder vergrößert anzeigenvon link: Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer, Präsidentin der Republik Moldau, Maia Sandu, Oberbürgermeister Burkhard Jung © claudiamasur.com Bilder vergrößert anzeigenMaia Sandu, Präsidentin der Republik Moldau © claudiamasur.com Bilder vergrößert anzeigen
Mit der Präsidentin der Republik Moldau wird eine Persönlichkeit ausgezeichnet, die sich laut Preiskuratorium "in vorbildlicher Weise ganz im Geiste Robert Blums unbeirrbar für Demokratie und europäische Verständigung einsetzt. Unter äußerst schwierigen politischen und wirtschaftlichen Bedingungen beweist sie Mut, Durchsetzungskraft und Unbestechlichkeit bei der Verfolgung ihrer politischen Ziele. Sie kämpft für Demokratisierung und die Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien sowie die Integration in die Europäische Union. Mit ihrem ebenso klaren und unmissverständlichen wie leidenschaftlichen politischen Stil hat sie sich hohe nationale und internationale Anerkennung erworben."
Die Präsidentin der Republik Moldau sagt: "Ich fühle mich geehrt und danke dem Preiskuratorium. Ich betrachte die Auszeichnung als eine Wertschätzung der gemeinsamen Anstrengungen vieler meiner Kollegen und weiterer unzähliger Personen, die sich für den demokratischen und internationalen Fortschritt der Republik Moldau engagieren. Ich sehe diese auch als eine Anerkennung der Menschen in meinem Land, die sich dafür einsetzen, dass unser Land Teil der europäischen Familie wird."
Rede des österreichischen Autors Karl-Markus Gauß anlässlich der Preisverleihung am 18. Mai 2024
Wer als Europäer in der Republik Moldau unterwegs ist und sich ein wenig mit Geschichte und Kultur dieses Landes beschäftigt, wird sich wundern, was er alles von seinem eigenen Kontinent nicht wusste. Etwa dass in der weltgeschichtlichen Provinz Bessarabien, die sich ungefähr mit dem Territorium der heutigen Moldau deckt, mit Dimitrie Cantemir einer der überragenden Gestalten der europäischen Aufklärung wirkte, ein Universalgelehrter des frühen 18. Jahrhunderts, Verfasser einer europäischen Enzyklopädie, erster Historiograph der moldauischen Geschichte, zudem Naturforscher, Philosoph, Komponist und Entdecker osmanischer Musikpartituren, die er für das Erbe der Weltkultur gerettet hat. Oder dass das Land für Generationen eine Verheißung der Freiheit war! Während sich heute manche Regionen Osteuropas nahezu entvölkern, weil die Menschen sie westwärts verlassen, wurde der Weg jahrhundertelang in die andere Richtung beschritten. Abertausende, denen sich in den deutschen Fürstentümern, in den habsburgischen Provinzen keine Aussicht auf wirtschaftlichen Aufstieg bot oder die religiöser, politischer Verfolgung entrinnen wollten, machten sich auf, ihr Glück im Osten zu suchen.
Regionen der heutigen Moldau waren lange Orte der Freiheit, des kulturellen und sprachlichen Reichtums
Deutsche Emigranten aus Baden und Württemberg kamen um 1820 in diese Region, deren östlicher Teil gerade für hundert Jahre vom russischen Zarenreich in Besitz genommen worden war. Sie gründeten Dörfer mit sprechenden Namen wie Gnadental, Gutheim, Hoffnungsfeld. In dieselben Gebiete waren vor, mit und nach ihnen Juden aus halb Europa gezogen, in der Hoffnung, hier frei von Bedrückung und Bedrängnis zu leben. Um 1900 war das heutige Chisinau eine Metropole der jiddischen Sprache und jüdischen Kultur, fast die Hälfte aller Einwohner von Kišinev, wie die Stadt von der zaristischen Obrigkeit genannt wurde, waren Juden. 1903 fiel, zum orthodoxen Osterfest, der aufgehetzte christliche Mob über sie her. Wir verleihen heute einen Preis für Demokratie, der nach Robert Blum benannt ist, da gehört es sich, an einen anderen Mann zu erinnern, der zugleich ein deutscher und, heute würde man sagen, ein moldauischer Demokrat war: An Karl Schmidt, den Bürgermeister von Kišinev, der den Pogrom als Kriminalfall ächtete und aufdeckte, welche politischen Kräfte im Geheimen darauf hingearbeitet hatten, bis sich endlich der spontane Volkszorn wie bestellt in Mord und Verwüstung entlud.
Jiddisch und Deutsch kann man in der Republik Moldau heute kaum mehr hören, die so genannten Bessarabiendeutschen waren 1940 im Gefolge des Hitler-Stalin-Paktes heim ins großdeutsche Reich gerufen, das moldauische Judentum während des Krieges von den Nationalsozialisten und ihren Kollaborateuren systematisch vernichtet worden. Und doch gibt es heute in der Moldau wieder eine kleine, doch selbstbewusste jüdische Gemeinschaft und eine noch kleinere deutsche Minderheit, die sich im so genannten „Kultur- und Begegnungszentrum Hoffnung“ zu sammeln versucht.
Wer das Land zwischen Soroca, der Stadt im Norden mit ihrem pittoresken Romaviertel, und Comrat im Süden, der Hauptstadt der Gagauz Yeri, des „Landes der Gagausen“, bereist, könnte sich eines herrlichen Reichtums an Sprachen erfreuen, die in den Dörfern und Städten zu hören sind: etwa Bulgarisch und Polnisch, Romanes und die Turksprache Gagausisch, zudem Ukrainisch, und das keineswegs nur, weil die bitterarme Moldau viele ukrainische Flüchtlinge aufgenommen hat, sondern hier eine große ukrainische Volksgruppe angestammt ist. Und natürlich ist in der Moldau allerorts Russisch zu hören; und erst recht Rumänisch, das übrigens erst seit vergangenem Jahr wieder so heißt. Als die UDSSR sich Moldawien als Sozialistische Sowjetrepublik eingliederte, setzten die Ideologen des realen Sozialismus eine Idee des realen Surrealismus in die Wirklichkeit um. Das Rumänisch, das im Land gesprochen wurde, durfte nicht mehr mit lateinischen, sondern musste mit cyrillischen Buchstaben geschrieben und fortan als Moldawisch bezeichnet werden. Wer als Schriftstellerin oder Sprachwissenschaftler darauf beharrte, dass es sich beim Moldawischen und Rumänischen um zwei Varianten derselben Sprache handelte, wurde als reaktionärer großrumänischer Nationalist gebrandmarkt.
Geschichte der kleinen, von mehreren Nationalitäten bewohnten Staaten ist oft komplizierter als die der großen
Geschätztes Publikum, ich wollte Sie nicht mit einem linguistischen Exkurs langweilen, sondern mit diesem auf etwas zu sprechen kommen, das in der Republik Moldau von enormer Bedeutung ist und dem die Frau, die heute den ersten Leipziger Robert Blum-Preis für Demokratie erhält, mit den urdemokratischen Tugenden der Vernunft und des Mutes begegnet. Ich habe gesagt, man könnte sich des Reichtums an Sprachen erfreuen, die in der Moldau gesprochen werden. Dieser Reichtum ist einerseits Folge der unaufhörlichen europäischen Wanderung, die Menschen aus vielen Richtungen in die Moldau gebracht hat. Und er hängt andrerseits damit zusammen, dass die ganze Region mit ihren verschiedenen staatlichen Vorläufern der heutigen Republik stets Schauplatz von Eroberungen, Rückeroberungen, Grenzverschiebungen war, wechselnden Herrschern untertan, gegensätzlichen Staatsgewalten ausgeliefert, die alle um die Moldau kämpften und in ihr auch ihre sprachlichen Spuren hinterließen. Die Geschichte der kleinen, von mehreren Nationalitäten bewohnten Staaten ist oft komplizierter als die der großen, die sich zwar auch nicht nach ehernen historischen Gesetzen, aber in der Regel gemäß einer gewissen inneren Folgerichtigkeit entwickeln. Bei den kleinen Staaten kommt hingegen die Unwägbarkeit hinzu, dass ihre Existenz von mächtigeren Nachbarn stetig beeinflusst wurde und noch heute periodisch in Frage gestellt wird.
Während sich im Westen mehr oder weniger homogene Nationalstaaten entwickelten, breitete sich im Osten ein europäischer Flickenteppich der Sprachen, Religionen, Ethnien aus. Nur allzu gerne würde ich von der schönen sprachlichen und kulturellen Vielfalt sprechen, die zu hüten Europa stolz sein könnte, doch muss man empört, traurig, ungläubig leider gerade heute etwas anderes konstatieren: dass soziale und politische Konflikte befeuert werden, indem ihnen sprachpolitischer Zunder zugeführt wird. Das heißt, soziale und politische Fragen werden nicht auf die ihnen angemessene Weise mit sozialen Ideen oder politischen Programmen beantwortet und ausverhandelt, sondern sie werden ethnisiert, und die Ethnie, um bei diesem Wort zu bleiben, wird – außer manchenorts über die Religion - fast immer über die Sprache gefasst. Als wären die Sprachen nicht das ureigene Verständigungsmittel der Menschen, sondern ihr wichtigstes Merkmal der Unterscheidung, Abgrenzung, Ausgrenzung.
Präsidentin Maia Sandu: Demokratie als Fundament, das Vielfalt berücksichtigt
Maia Sandu hat mit Gleichgesinnten 2016 die „Partei der Aktion und Solidarität“ gegründet, als Selbstverteidigung der Gesellschaft gegen die Inbesitznahme der staatlichen und kommunalen Institutionen, aber auch der Traditionen und Reichtümer des Landes durch die Korruptionisten sämtlicher Parteien und Nationalitäten. Was sie, heute als Präsidentin, versucht, ist nichts anderes, als die Sümpfe der Korruption trocken zu legen. Dabei setzt sie auf eine rigorose Reform des Bildungswesens, in dem vordem Schul- und Universitätsdiplome gegen Geld verliehen wurden, was zur Folge hatte, dass sich in der Verwaltung und überall im Staat unfähige und ungebildete, aber ihren Förderern verpflichtete Figuren tummelten; und auf den Aufbau des Rechtsstaates, was ihr die Feindschaft derer eintrug, die von dessen Fehlen profitierten. Worauf sie ausdrücklich nicht setzte und setzt, das ist der gerade am Balkan so oft mit verheerenden Folgen unternommene Versuch, mittels nationalistischer Mobilisierung die Dominanz einer Nationalität über die anderen anzustreben.
In einer Rede, gehalten im Mai 2023, die künftig in keiner Anthologie der großen politischen Reden Europas fehlen sollte, hat sie sich an ihre Abertausenden Zuhörer und Zuhörerinnen auf Rumänisch, auf Russisch, auf Ukrainisch, Gagausisch und Bulgarisch gewandt. Nicht ob jemand russische oder ukrainische Vorfahren hat, ob er die gagausischen, bulgarischen, rumänischen Traditionen seiner Familie hüten möchte, ist von Belang für die Zukunft der Republik Moldau. Das identitätsstiftende Merkmal ist nicht die Ethnie, sondern der Glaube an die Demokratie und die Bereitschaft, für sie einzustehen. Das Ziel könnte man vielleicht als eine Art von übernationalem Staatspatriotismus bezeichnen, der die Demokratie zum Fundament hat und die Vielfalt berücksichtigt.
Der Respekt, den Maia Sandu nicht nur in ihrer großen Rede den verschiedenen Nationalitäten ihres Landes zollt, hält die russische Propaganda nicht davon ab, nationale Konflikte in der Moldau zu provozieren, die Einheit des Staates zu schwächen und die Moldauer davon zu überzeugen, dass ihre natürliche Heimstatt im Russki Mir, dem Wahngebilde der „Russischen Welt“ liege. Was in und mit der Moldau geschieht, wird daher nicht nur von den Hunderttausenden abhängen, die sich in der Moldau ausdauernd friedlich für die Demokratie einsetzen, und auch nicht allein von der Entschlossenheit und der pragmatischen Klugheit der Demokratie-Bewegung. Vielmehr ist vonnöten, dass die Europäische Union der Moldau nicht leere Versprechungen, sondern reale politische Solidarität bietet. Die Moldau hat es nicht verdient, sich im vermeintlichen Hinterhof Russlands mit einer bedrohten oder gar befristeten Souveränität zufriedengeben zu müssen; aber auch nicht, künftig als eine Art Pufferzone zwischen dem expansionshungrigen Russland und der erweiterungsskeptischen Union zu dienen. Tun wir vielleicht einmal das, was uns schwerfällt: Jenen, die unserer Union aus mannigfachen Gründen beitreten wollen, nicht mit paternalistischem Wohlwollen Belehrungen zu erteilen, sondern zuzuhören, was sie zu sagen, zu fordern und zu bieten haben. Wer sich mit der Moldau von heute und einst beschäftigt, wird sich wundern, was alles er von seinem Europa noch nicht wusste.
Die Republik Moldau auf dem Weg in die Europäische Union
Möge Maia Sandu gelingen, was mit ihr so viele Moldauer anstreben, den Staat der Gesellschaft zurückzugeben und bei der Demokratisierung des Landes in der Europäischen Union keine zögerlichen, sondern hilfreiche Partner zu finden.
Dankesrede der Präsidentin der Republik Moldau, Maia Sandu, anlässlich der Preisverleihung am 18. Mai 2024
Oberbürgermeister Jung,
Ministerpräsident Kretschmer,
verehrte Gäste,
meine Damen und Herren,
vielen Dank, dass Sie mich in Ihrer schönen Stadt so herzlich willkommen geheißen haben. Mit großer Dankbarkeit und Demut nehme ich den ersten Robert-Blum-Preis für Demokratie entgegen.
Ich betrachte diese Auszeichnung nicht nur als Anerkennung meiner Bemühungen, sondern auch als Beweis für die Widerstandskraft und Entschlossenheit des moldauischen Volkes in seinem Streben nach Demokratie. Dieser Preis wird uns ermutigen, denjenigen die Stirn zu bieten, die versuchen, unseren europäischen Kontinent zu unterdrücken.
In einer herausfordernden Welt, einer Welt, die oft voller schlechter und düsterer Nachrichten ist, müssen wir Gründe finden, optimistisch zu sein. Fast 180 Jahre nach dem Tod von Robert Blum lebt seine Leidenschaft für Demokratie in vielen Millionen Menschen weiter. Das sollte uns Hoffnung geben und den Mut, für das zu kämpfen, woran wir glauben - so wie er es tat.
Das gleiche Engagement für Demokratie lebt in der Ukraine weiter, wo die Menschen schrecklich leiden, weil sie frei sein wollen. Es lebt in Georgien weiter, wo Zehntausende Bürger auf die Straße gegangen sind, um ihren europäischen Traum zu verwirklichen. Und es lebt in meinem Land, der Republik Moldau, weiter, wo wir trotz der Anstrengungen Russlands und seiner Stellvertreter, uns zu untergraben, unsere eigene Zukunft gestalten wollen.
Verehrtes Publikum,
dieser Preis und die heutige Feierstunde erinnern - gerade hier in Leipzig - an die Rolle, die Deutschland im Leben unseres Kontinents spielt. Für mich hat es einen besonderen Platz in meinem Herzen. Deutschland ist nicht nur ein treuer Verbündeter, sondern auch ein Leuchtturm der Demokratie und des Fortschritts. Deutschland hat uns in der Republik Moldau geholfen, widerstandsfähiger gegen die Krisen zu werden, die wir nach dem brutalen Überfall Russlands auf unser Nachbarland Ukraine zu bewältigen hatten. Ihr Land hat zusammen mit Rumänien und Frankreich die Moldau-Unterstützungsplattform ins Leben gerufen, die uns dabei hilft, uns um ukrainische Flüchtlinge zu kümmern, dafür zu sorgen, dass Licht und Heizung funktionieren, während Russland versucht, uns die Energiequellen zu entziehen, und uns auf wichtige Reformen zur Verbesserung unserer Wirtschaft und Gesellschaft zu konzentrieren.
Die Zusammenarbeit mit Deutschland ist auch im Sicherheits- und Verteidigungsbereich sehr wichtig, um unsere Widerstandsfähigkeit gegenüber den vielfältigen Herausforderungen zu stärken. In den gestrigen Gesprächen in Berlin mit Bundeskanzler Scholz, Bundespräsident Steinmeier, dem der Robert-Blum-Preis, wie ich weiß, am Herzen liegt, der Bundestagspräsidentin Bas und anderen Amtskollegen habe ich meine Wertschätzung für das Engagement und die Großzügigkeit Deutschlands zum Ausdruck gebracht. Dies verändert viel für die Republik Moldau.
Meine Damen und Herren,
manche sagen, die Demokratie sei weltweit auf dem Rückzug. Warum sind wir dann alle bereit, uns so sehr für den Fortschritt der Demokratie einzusetzen? Weil wir wissen, was die Alternative ist.
Ich bin unter dem Druck des totalitären Sowjetimperiums geboren und aufgewachsen. Das Regime isolierte seine Untertanen vom Rest der Welt und belog uns jeden Tag mit der Behauptung, der Westen wolle Krieg gegen uns führen. Es erlaubte uns nicht, unsere Muttersprache zu sprechen, und brachte diejenigen zum Schweigen, die es wagten, ihre Meinung zu sagen. Die Wahlen waren eine Farce, und die Führer wechselten nur, wenn andere starben. Das Regime tötete und zerstörte die Schicksale von Millionen.
Meine Jugend steht in krassem Gegensatz zu der freien und friedlichen Zukunft, die wir uns für Moldau vorstellen. Meine Generation ist frei, sich das Leben aufzubauen, das meinen Großeltern und Eltern verwehrt war. Aber eine Lektion, die ich gelernt habe, ist, dass diese Freiheit geschützt werden muss. Demokratie kann nicht als selbstverständlich angesehen werden. Die unsere wurde in den letzten zwei Jahren ständig von Russland und seinen Stellvertretern angegriffen. Die Republik Moldau musste Energieerpressung, wirtschaftlichen Druck, Wahleinmischung, Desinformationsangriffe und sogar einen Versuch, unsere legitime, demokratisch gewählte Regierung zu stürzen, ertragen.
Angesichts der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen und des Referendums über die EU-Mitgliedschaft im Oktober sind wir uns bewusst, dass die russischen hybriden Bedrohungen nur noch zunehmen werden. Und bei diesen Taktiken geht es nicht nur darum, unsere Souveränität zu untergraben, sondern sie sind auch Pilotversuche für Strategien, die Europa destabilisieren sollen. Wer genau hinschaut, wird vertraute Muster erkennen: soziale Zwietracht säen, das Vertrauen in Institutionen und zwischen Menschen untergraben und die Einheit der europäischen Nationen schwächen. Diese Praktiken sind besonders gefährlich, weil sie vorhandene Schwachstellen ausnutzen und verschärfen und darauf abzielen, unsere kollektive Entschlossenheit zu brechen.
Leider gibt es kein Patentrezept für die Verteidigung von Demokratien gegen solche komplexen Bedrohungen. Aber eines ist für mich klar: Allein schaffen wir es nicht. Wir brauchen eine noch nie dagewesene Einigkeit und innovatives Denken, um unsere Gesellschaften zu schützen. Es steht viel auf dem Spiel. Die Republik Moldau steht an vorderster Front im Kampf für die Demokratie, und wenn unser Widerstand nachlässt oder der Widerstand der Ukraine nachlässt, wird sich die Front weiter nach Westen verschieben.
Meine Damen und Herren,
ich habe zu Beginn meiner Rede gesagt, dass wir Gründe brauchen, um optimistisch zu sein. Meiner ist, dass die Republik Moldau trotz aller Belastungen immer widerstandsfähiger wird.
Wir befinden uns in einem tiefgreifenden Wandel. Wir treiben weitreichende Reformen voran. Wir haben unsere Energieunabhängigkeit durch die Diversifizierung der Versorgung gesichert. Bei der Bekämpfung der Korruption und der Reform unseres Justizsystems orientieren wir uns an den höchsten europäischen Standards. Die Moldauer sind bereit, für ihre demokratische und wirtschaftliche Zukunft einzustehen. Wir lassen uns nicht einschüchtern oder zur Unterwerfung zwingen. Wir sind fest entschlossen, für die Demokratie einzutreten, und wir werden sie um jeden Preis verteidigen.
Wir stellen uns eine Zukunft vor, in der die Republik Moldau als ein wohlhabendes und demokratisches Land gedeiht. Unser Ziel ist klar: Wir wollen das Land bis 2030 auf den EU-Beitritt vorbereiten.
Für Sie mag 2030 ein ehrgeiziges Ziel sein, doch lassen Sie mich Ihnen sagen: Für uns ist es ein gefährlich langer Zeitrahmen. Er bedeutet, dass wir uns weitere sechs Jahre gegen die hybriden Bedrohungen der Demokratie wehren müssen, weitere sechs Jahre dem Druck Russlands standhalten, uns weitere sechs Jahre gegen die unerbittliche Aggression verteidigen müssen.
Deshalb bitte ich Sie und andere in der EU heute, den Beitritt der Republik Moldau und unseres Nachbarn, der Ukraine, nicht als Erweiterung im Sinne eines „business as usual“ zu behandeln. Wir sind weit davon entfernt.
Wir unternehmen eine kritische, dringende Anstrengung, um unsere Zukunft in der Europäischen Union zu sichern. Die kollektive Solidarität, die die EU bietet, ist für uns ein Rettungsanker. Wir können es uns nicht leisten zu warten, und Europa kann es sich nicht leisten zu warten. Wenn wir auf die EU-Mitgliedschaft hinarbeiten, tun wir dies Seite an Seite mit unserem Nachbarn, der Ukraine. Der gefährlichste Krieg auf unserem Kontinent seit 1945 wird auf seinem Boden ausgetragen. Während wir heute hier versammelt sind, hat Russland den Konflikt erneut verschärft und erhöht den Druck auf die ukrainische Armee rund um Charkiw und anderswo. Ukrainische Soldaten geben ihr Leben, damit die Republik Moldau und vielleicht auch andere Länder frei leben können. Wir stehen in der Schuld dieser tapferen Männer und Frauen, die für ihre und unsere Freiheit kämpfen.
Deshalb rufe ich heute zu noch größerer internationaler Unterstützung auf, um der Ukraine zu helfen, sich der russischen Invasion zu widersetzen und ihre territoriale Integrität zu verteidigen.
Zeigen wir Russland, dass es sich irrt - Demokratien sind nicht schwach, sie sind stark - und dass wir zusammenstehen. Erinnern wir uns abschließend an die Worte von Robert Blum, einem Verfechter der Demokratie und der Menschenrechte - angeblich seine letzten Worte kurz vor seiner Hinrichtung im Jahr 1848: „Ich sterbe für die Freiheit, möge das Vaterland meiner eingedenk sein.“ In der Ukraine sterben Menschen für die Freiheit, damit wir es nicht müssen. Erinnern wir uns an ihr Opfer, wenn wir unsere Energie für das Streben nach einer stärkeren demokratischen Welt einsetzen!
Meine Damen und Herren,
ich bedanke mich nochmals für die Auszeichnung mit diesem Preis. Ich verpflichte mich, die von Robert Blum vertretenen Werte zu achten.
Danke.
Meldungen zum Leipziger Robert-Blum-Preis für Demokratie
Image-Video zum Leipziger Robert-Blum-Preis für Demokratie
Theatermacher, Publizist und Politiker Robert Blum
Der Leipziger Robert-Blum-Preis für Demokratie ist nach dem Theatermacher, Publizisten und Abgeordneten der ersten deutschen Nationalversammlung Robert Blum (1807 – 1848) benannt, der in den Jahren 1835 bis 1848 politisch und publizistisch von Leipzig aus wirkte.
Er trat während der Revolution 1848/ 49 für freiheitliche Rechte und gewaltfreie Veränderung in der Gesellschaft ein, stritt für Presse- und Redefreiheit und suchte den Austausch mit europäischen Revolutionsbewegungen. Der begnadete Redner setzte auf Gespräch und Kompromiss, die Grundlagen jedweder Demokratie sind.
Als Herausgeber der kritischen Zeitschrift "Sächsische Vaterlands-Blätter" stieß er Debatten an und bot ersten politisch aktiven Frauen wie Louise Otto, spätere Otto-Peters (1819 - 1895), eine Plattform, Kritik an der Obrigkeit zu nehmen und Reformen einzufordern. Sie plädierte darin für die Verbesserung der Mädchenbildung sowie das Recht der Frau auf politische Mitbestimmung.
Für Leipzig zog er in die Frankfurter Nationalversammlung ein, die am 18. Mai 1848 eröffnet wurde. Im Oktober 1848 reiste er als Delegationsleiter der demokratischen Fraktion nach Wien, wo ebenfalls eine revolutionäre Erhebung begonnen hatte. Hier wurde er nach mehreren Reden sowie dem Einsatz im Verteidigungskorps gegen die kaiserlichen Truppen trotz Immunität als Abgeordneter am 4. November verhaftet. Am 8. November wurde er zum Tode verurteilt und am folgenden Tag erschossen. Seine Hinrichtung gab der revolutionären Bewegung in Deutschland neuen Schub, bevor diese 1849 militärisch niedergeschlagen wurde.
Im Jahr 2020 wurde die Bedeutung dieser demokratischen Epochenfigur durch den Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier hervorgehoben, indem er einen Saal der Ehrengalerie im Schloss Bellevue mit einer wegweisenden Ansprache nach Robert Blum benannte. Ein Bildnis Robert Blums hängt als Dauerleihgabe des Stadtgeschichtlichen Museums Leipzig in dieser Galerie.
Robert Blums Wirken ist auch heute Sinnbild eines Neuaufbruchs in eine demokratische Zukunft – insbesondere mit Blick auf die damals wie heute vorhandenen autoritären und populistischen Gefährdungen.