Liebe Leipzigerinnen und Leipziger,
der 9. Oktober 1989 bewegt uns alle. An diesem Tag wurde in Leipzig Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts geschrieben. Der Zug der 70.000 um den Ring war der Durchbruch der Friedlichen Revolution in der DDR. Durch zahlreiche Gespräche, Zuschriften, Leserbriefe und Umfragen spüre ich, wie lebendig dieser Tag in Ihrer Erinnerung ist, für wie wichtig Sie dieses Ereignis für uns und unsere Stadt halten.
Die Stadt Leipzig wird mit einem Denkmal geehrt
Die Bedeutung dieses Tages wird von niemandem bestritten. Der Bundestag und der Sächsische Landtag haben daher beschlossen, den 9. Oktober 1989 mit einem Denkmal in der Stadt Leipzig zu ehren. Der Leipziger Stadtrat hat sich mehrheitlich zu diesem Vorhaben bekannt und den Oberbürgermeister aufgefordert, ein Auslobungsverfahren einzuleiten. Selten ist eine demokratische Grundlage so eindeutig wie beim Leipziger Freiheits- und Einheitsdenkmal.
Die Werkstattphase
Am 17. und 18. Februar 2011 fand im Neuen Rathaus unserer Stadt eine Werkstatt mit nationalen und internationalen Experten statt. Der Sachverstand renommierter Historiker und Städteplaner, Künstler und Bauexperten sollte uns wichtige Anregungen zu drei Fragen geben: Welche geschichtliche Bedeutung besitzt der 9. Oktober 1989 über die Grenzen unserer Stadt hinaus? Welcher Standort kommt in Frage? Und: Welche künstlerische Gestalt sollte ein Leipziger Nationaldenkmal besitzen?
Im Vorfeld dieser Werkstatt fand vom 14. bis zum 16. Februar eine Begegnung Jugendlicher aus Houston, Krakau, Hannover und Leipzig statt, die sich aus ihrer Perspektive mit den gleichen Fragen beschäftigten. Denn darüber waren wir uns vorher einig: Ein Leipziger Denkmal darf nicht nur an den Mut und die Entschlossenheit der friedlichen Revolutionäre erinnern. Es soll vor allem den kommenden Generationen Kraft und Orientierung geben.
Die Ergebnisse der Werkstattphase
Ich bin sehr froh, dass beide Foren zu ähnlichen Ergebnissen gekommen sind. Dies bestärkt mich in der Überzeugung, dass wir auf dem richtigen Weg sind.
Die geschichtliche Bedeutung des 9. Oktober 1989 war dabei unumstritten. Dieser Tag ist das entscheidende Datum für den Durchbruch und das Gelingen der Friedlichen Revolution in der DDR. Die Friedliche Revolution war gleichzeitig Motor und Bestandteil des welthistorischen Vorgangs der Selbstbefreiung Osteuropas. Die Friedliche Revolution schuf die Voraussetzungen für die Wiedergewinnung der Einheit Deutschlands und trug zur Überwindung der Teilung Europas und der Beendigung des Weltkonfliktes bei, der das 20. Jahrhundert bestimmt hatte.
Besonders wichtig war den Teilnehmern der Workshops die Betonung der subjektiven Erfahrungen der Menschen am 9. Oktober 1989. Entscheidend war die Überwindung der Furcht, zuerst in den kleinen Initiativgruppen, die unter großem Risiko die Straße als öffentlichen Raum zurückeroberten, dann durch die Vielen, die sich anschlossen. Die Friedliche Revolution war in der an Glücksfällen nicht eben reichen deutschen Geschichte eine Sternstunde. Sie wird von den Beteiligten als ein persönlicher Augenblick großen Glücks erinnert.
Die Standortfrage
Auch in der Frage des Standortes fanden Jugend- und Expertenwerkstatt zueinander. Hier drehten sich die Diskussionen vor allem um die Authentizität. Für die Zeitzeugen sind die lebendigen Erinnerungsorte natürlich besonders bewegend. Das Freiheits- und Einheitsdenkmal soll aber nicht nur eine Gedenkstätte am historischen Ort des Geschehens werden, sondern als nationales Denkmal durch Standort, Gestalt und Aussagekraft über Leipzig hinausweisen und eine eigene Aura entwickeln. Und dabei steht die Authentizität der Botschaft der Friedlichen Revolution im Vordergrund. Der Augustusplatz, zentraler Leipziger Ort der Friedlichen Revolution, bietet nach Meinung der Experten hierfür keinen angemessenen Gestaltungsraum.
Der Wilhelm-Leuschner-Platz dagegen, heute eine weitgehend unwirtliche Freifläche, bietet die einmalige Chance zur Gestaltung als neuer öffentlicher Raum. Er liegt am Ring und nah an den Orten des revolutionären Geschehens. Als neuer S-Bahn-Haltepunkt und Umsteigepunkt wird er ein belebter, pulsierender Ort werden. Im Mittelpunkt eines großen Stadtraums, geprägt durch das Neue Rathaus, die Stadtbibliothek sowie Trinitatis-Kirche und Markthalle, die sich in Planung befinden, mit Blick zum Hochhaus am Augustusplatz und zur Kuppel des Reichsgerichts und nicht zuletzt in der Sichtachse zum Völkerschlachtdenkmal bietet ein großzügig gestalteter Wilhelm-Leuschner-Platz einen idealen öffentlichen Ort für ein über Leipzig hinausweisendes Stadtzeichen eines Freiheits- und Einheitsdenkmals.
Das Denkmal als Erinnerungsraum
Betreffs der künstlerischen Aufgabe bestand große Einigkeit darin, das Denkmal als einen Erinnerungsraum zu gestalten, der in die Zukunft weist. Es soll eben nicht nur das Vermächtnis eines großen historischen Augenblicks für die Nachwelt bewahren. Tatsächlich liegt die Bedeutung der Friedlichen Revolution im 21. Jahrhundert.
Das Leipziger Denkmal soll daher einen Ort der lebendigen und kritischen Auseinandersetzung darstellen. Es soll einen von der Gegenwart aus gestalteten Erinnerungsprozess anstoßen und die Erfahrungen der Friedlichen Revolution - „Wir sind das Volk!“ und „Keine Gewalt!“ - ins Heute und in die Zukunft überführen. Die Gewaltfreiheit, die Zivilcourage und die errungenen Menschen- und Bürgerrechte müssen zentrale thematische Motive werden.
Eine anspruchsvolle Aufgabe
Dass dieses Vorhaben in einem Spannungsverhältnis zwischen politischer Absicht und kritischer künstlerischer Auseinandersetzung steht, macht es umso interessanter. Ein für das demokratische Deutschland positives Geschichtsereignis ohne den staatstragenden Pathos der vergangenen Jahrhunderte mit heutigen Mitteln der Kunst darzustellen, ist eine überaus anspruchsvolle Aufgabe.
Man hat uns Leipziger in jeder Hinsicht bestärkt, dieses Vorhaben voranzutreiben. Umso mehr müssen wir uns mit den kritischen Meinungen beschäftigen, die in der Öffentlichkeit kursieren. Ich nehme diese Bedenken sehr ernst. Denn dieses Denkmal muss durch unsere Stadtgesellschaft gewollt und getragen werden. Demokratie ist die alltägliche Erfahrung einer gemeinsamen Sache. Demokratie erträgt nicht nur den Streit, sie fordert ihn heraus. Dabei müssen wir auch über Enttäuschungsgeschichten reden, über aktuelle Lebenslagen, die den Zielen der Friedlichen Revolution Hohn sprechen. So frei müssen wir sein!
Die Bürgerschaft diskutiert
Am 8.3.2011 fand in der „Alten Börse“ ein Bürgerforum statt, in dessen Rahmen der aktuellen Stand des Projektes mit der Leipziger Stadtöffentlichkeit diskutiert worden. Mit den Zielen, alle Argumente anzuhören, die Diskussion zu versachlichen und falsche Alternativen abzubauen.
Ich darf Ihnen versichern: Keine andere städtische Aktivität wird durch das Leipziger Freiheits- und Einheitsdenkmal behindert. Im Gegenteil: Leipzig bekommt eine weitere Attraktion, deren historisches und politisches Gewicht mit der Zeit zunehmen wird. Wenn heute auf den Straßen Kairos und Bengasis, in Aden und Bahrain Menschen mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“ den öffentlichen Raum für sich erobern, dann steht Leipzig hierfür Pate.
Wie geht es nun weiter?
Im Anschluss an das Bürgerforum wird der Stadtrat über den Standort und das weitere Auslobungsverfahren entscheiden. Zum 25. Jahrestag der Friedlichen Revolution wollen wir das Denkmal dann der deutschen und der europäischen Öffentlichkeit präsentieren.
Diese einmalige Gelegenheit für die Leipziger – als Dank für ihren Mut, ihre Beharrlichkeit, ihre Gewaltlosigkeit – dürfen wir nicht vergeben. Dies ist meine feste Überzeugung. Was der 14. Juli 1789 für die Bürger- und Menschenrechte im 19. und 20. Jahrhundert war, könnte der 9. Oktober 1989 für das 21. Jahrhundert werden. Die Bedeutung der Friedlichen Revolution liegt in der Zukunft.
Ihr
Burkhard Jung
Hier schreibt Oberbürgermeister Burkhard Jung: Leipziger Freiheits- und Einheitsdenkmal
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